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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Herz immer schneller klopfte. Wo blieb das verabredete Zeichen? Plötzlich wurde es still.
    Irgend etwas stimmt da nicht, dachte Ci besorgt. Er umklammerte die Bambusstange und überlegte, ob er aufspringen sollte. Mei Mei konnte in Gefahr sein. Doch Wang kam ihm zuvor.
    »Jetzt«, rief der Bootsführer.
    Ci schoss hervor wie eine Sprungfeder und fackelte nicht lange: In Sekundenschnelle hatte er den ersten Mann an Deck des Nachbarbootes mit seiner Bambusstange ins Wasser befördert. Wang überrumpelte derweil den Burschen im Heck, der kurz darauf ebenfalls über Bord ging. Ze hingegen hatte Schwierigkeiten, den dritten Mann zu überwältigen, der mit einem Dolch bewaffnet war. Ci wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die beiden anderen wieder an Bord geklettert kamen. Sie mussten den Letzten erledigen, oder es war alles verloren. Wang schien seine Gedanken zu lesen, denn beide stürzten Ze gleichzeitig zu Hilfe, und schon im nächsten Augenblick fand sich auch der Dolchstecher im Wasser wieder.
    Wang sprang hinüber auf die zurückeroberte Barkasse.
    »Pass du gut auf die Frau auf«, befahl er Ze.
    Ci folgte Wang. Der Bootsführer hatte ihm aufgetragen, zu verhindern, dass die Räuber sich den Booten näherten, doch erst musste er sich vergewissern, dass es Mei Mei gutging. Er lief hinüber zu den Säcken, zwischen denen sie geschlafen hatte, doch dort fand er sie nicht. Ihm blieb beinahe das Herz stehen. Er begann wie ein Irrer die Packen herumzuräumen und rief panisch ihren Namen, immer wieder, bis er plötzlich ein Stimmchen hörte, das vom anderen Ende des Bootes kam. Während Wang und Ze mit den Rudern hantierten, um die Banditen fernzuhalten, hastete er in die Richtung, aus der die Stimme seiner Schwester kam. Zusammengekauert unter einer Decke fand er sie schließlich: klein, schutzlos, fiebrig und verängstigt, an ihre Lumpenpuppe gedrückt.
    * * *
    Als Ci den Bootsführer bat, die Prostituierte als Passagier mitzunehmen, fasste der Mann sich an den Kopf. Aber Ci ließ nicht locker.
    »Sie haben sie gezwungen, mitzumachen. Sie war es, die meine Schwester gerettet hat.«
    »Das stimmt«, ließ sich Mei Meis Stimmchen hinter seinem Rücken vernehmen.
    »Und das glaubst du? Wach auf, Junge! Diese Blume ist so verdorben wie der Rest des Gartens. Bitter und voller Dornen. Sie würde alles sagen, um ihren hübschen Hintern zu retten.« Er bohrte Pfirsichblüte seine Bambusstange in den Rücken. Sie hatten gerade den Seitenkanal verlassen und waren zum anderen Ufer des breiten Flusses hinübergefahren, die Schaluppe, die sie gekauft hatten, an Wangs Kahn gebunden. Schwimmend würden die Banditen den Fluss niemals überqueren können.
    Als sie das Ufer erreicht hatten, brachte Ci noch einmal die Rede auf Pfirsichblüte.
    »Aber was macht es Euch schon aus? Sie kann Euch keinen Schaden zufügen, und sie hier auszusetzen würde bedeuten, sie Räubern und Zuhältern auszuliefern.«
    »Sie sollte sich dankbar zeigen. Sie sollte für uns tanzen, damit wir sie nicht ins Wasser werfen. Aber guck sie dir an: mürrisch und verkniffen wie saure Milch.«
    »Wie soll sie auch schauen, wenn Ihr vorhabt, sie ihrem Schicksal zu überlassen, anstatt sie der Justiz zu übergeben?«
    »Der Justiz? Dass ich nicht lache! Sie wird sicher froh sein, nicht vor einem Richter irgendwelche Erklärungen abgeben zu müssen. Frag sie nur. Außerdem, warum sollte ich so etwas tun?«
    »Das habe ich Euch bereits gesagt. Zum Henker,Wang! Siehat meine Schwester gerettet! Außerdem hat sie sich nicht verteidigt, als wir den Kahn überfallen haben.«
    »Das wäre ja auch noch schöner gewesen! Nein, mein Junge, ich werde mit ihr machen, was ich schon mit dir hätte tun sollen: sie hier aussetzen als Räuberin, Giftmischerin, Lügnerin, Schlange und wer weiß, was noch alles … Na los, hilf mir mit diesen Hölzern!«
    Ci betrachtete Pfirsichblüte, wie sie zusammengesunken dasaß, und musste an einen streunenden Hund denken, der von allen geprügelt wurde, bis er lernte, den Menschen zu misstrauen und beim Erstbesten zubiss, der ihm zu nahe kam. Er glaubte an ihr gutes Herz, doch Wang wiederholte unbeirrt, dass Pfirsichblüte sich nur um seine Schwester gekümmert hatte, um sie später an ein Bordell zu verkaufen.
    »Dann werde ich eben für ihre Fahrt bezahlen«, verkündete Ci.
    »Habe ich richtig gehört?«
    »Ich denke schon, wenn Ihr nicht ebenso schwerhörig wie hartherzig seid.« Er bat Mei Mei, ihm den Wechsel über fünftausend

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