Der Totenleser
auf Erden geschah, Konsequenz und Strafe menschlichen Verhaltens war, fand er keine passende Erklärung für seine Situation, die seine schmerzende Seele beruhigte.
Mit dem ersten Licht des anbrechenden Tages kehrte wohltuende Geschäftigkeit auf das Boot zurück. Inzwischen bevölkerten Dutzende Passagier- und Fischerboote den Fluss wie eine Plage. Wang holte gerade den Anker ein und rief seinen Männern Befehle zu, als eine Schaluppe, die von einem alten Fischer gesteuert wurde, gegen die Bordwand stieß. Zu spät bemerkte Wang, dass der Alte ihr Boot beschädigt hatte.
»Verdammte Nichtsnutze! Die sollten alle ersaufen!«, fluchte er und untersuchte kopfschüttelnd die Seitenwand. »Diese Missgeburt hat ein Loch reingeschlagen! Das müssen wir reparieren, oder wir verlieren die Fracht.«
Glücklicherweise befanden sie sich wenige Li vor Jianningfu, dem Hauptkreuzungspunkt der Kanäle der Präfektur,wo sie das nötige Material zum Reparieren des Lecks finden würden. Bis dahin würden sie sich dicht am Ufer halten, obwohl sie damit das Risiko eingingen, von Banditen überfallen zu werden, die plündernd umherstreiften. Aus diesem Grund beauftragte Wang Ci und seine Männer, die Augen offenzuhalten und Alarm zu schlagen, falls sich jemand der Barkasse näherte.
Die Anlegebrücke von Jianpu glich einem Wespennest aus Händlern, Viehhändlern, Bauern aller Art, improvisierten Krämern, Dschunkenbauern, Fischern, Bettlern, Prostituierten und Gaunern, die sich auf eine Art durcheinandermischten, dass es beinahe unmöglich war, Erstere von Letzteren zu unterscheiden. Der Gestank von vergammeltem Fisch überlagerte den ranzigen Schweißgeruch und die Gerüche, welche die an den Ständen ausgelegten Lebensmittel verströmten.
Gleich nachdem sie angelegt hatten, kam ein Männlein mit zerlumpter Kleidung und Ziegenbart herbeigelaufen, um die Anlegegebühren zu kassieren, doch der Bootsführer jagte ihn mit Fußtritten fort und rief ihm nach, dass er nicht nur keine Waren ausladen werde, sondern dass sein Halt dem Zusammenstoß mit einem Unfähigen geschuldet war, der mit Sicherheit von diesem Steg abgelegt hatte.
Während Wang an Land ging, um einige Einkäufe zu machen, beauftragte er Ze, den ältesten der Besatzungsmitglieder, Bambus und Hanf für die Reparatur zu kaufen, und den jüngsten, zusammen mit Ci bis zu seiner Rückkehr in der Barkasse zu bleiben.
Der jüngere Bootsmann murrte, Ci jedoch freute sich, Mei Mei nicht aufscheuchen zu müssen, die zusammengerollt zwischen zwei Reissäcken schlief. Sie zitterte wie ein Welpe, also deckte Ci sie mit einem leeren Sack zu, um sie vor derBrise zu schützen, die von den Bergen herüberwehte. Er holte einen Eimer Wasser und begann die wenigen freiliegenden Planken des Schiffes zu putzen, während der Bootsmann sich die Zeit damit vertrieb, die Prostituierten zu beobachten, die auf und ab stolzierten. Nach einer Weile spuckte der Bootsmann die Wurzel aus, auf der er herumgekaut hatte, und sagte zu Ci, dass er an Land gehen und eine Runde drehen wolle. Ci nickte und wischte unbekümmert weiter.
Plötzlich trat eine junge Frau in einer roten Tunika an den Kahn. Ihre enganliegende Kleidung betonte ihre wunderschöne Figur, und als sie Ci anlächelte, entblößte sie eine Reihe perfekter Zähne. Ci errötete, als das Mädchen ihn fragte, ob das Boot ihm gehöre.
»Nein … Ich … Ich passe nur darauf auf«, stotterte er.
Das Mädchen griff sich an den Dutt, wie um ihn zurechtzurücken. Sie schien sich für ihn zu interessieren, und das verunsicherte ihn, denn außer mit Kirschblüte und den zwei Kurtisanen, mit denen er und Richter Feng sich in den Teesalons angefreundet hatten, hatte er nie mit fremden Frauen gesprochen. Das Mädchen ging weiter am Landungssteg auf und ab. Nach einer Weile blieb sie erneut vor der Barkasse stehen.
»Reist du allein?«, fragte sie.
»Ja … das heißt, nein!«
»Also ich sehe außer dir niemanden«, meinte sie kokett.
»Das stimmt«, stammelte Ci. »Die anderen sind an Land gegangen, um Werkzeuge zu kaufen.«
»Und du? Gehst du nicht an Land?«
»Ich muss auf die Fracht aufpassen.«
»Oh! Wie gehorsam!« Sie verzog das Gesicht. »Und sag, haben sie dir auch verboten, mit den Mädchen zu spielen?«
Ci wusste nicht, was er antworten sollte, und starrte sie weiter an. Das Mädchen war eine Dirne, aber sie war wunderschön.
»Ich habe kein Geld«, sagte er.
»Das ist kein Problem.« Das Mädchen lächelte unaufhörlich. »Du bist
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