Der Totenleser
ein hübscher Junge, und hübsche Jungen bekommen Sonderangebote. Möchtest du einen heißen Tee? Meine Mutter würde dir sicher einen zubereiten, mit Pfirsichblüte.« Sie deutete auf eine nahe gelegene Hütte. »Pfirsichblüte, so nennt man übrigens auch mich.« Sie warf verführerisch den Kopf in den Nacken.
»Ich darf das Boot nicht alleine lassen, Pfirsichblüte.«
Das Mädchen schien nicht viel darauf zu geben. Lächelnd marschierte sie in Richtung der Hütte davon. Kurz darauf kam sie mit zwei Tassen und einer Teekanne zurück. Sie ähnelte Kirschblüte überhaupt nicht, doch löste sie ein Verlangen in ihm aus, das er sich nicht erklären konnte.
»Steh nicht da wie eine Statue. Hilf mir mal, oder es fällt noch was runter!«, rief sie frech und machte Anstalten, das Boot zu besteigen.
Ci bot ihr seinen Arm an, dabei achtete er darauf, dass die Verbrennungen an seiner Hand unter dem Ärmel versteckt blieben. Sie hielt sich an ihm fest, und mit einem Satz war sie auf dem Schiff. Ohne abzuwarten, dass Ci sie dazu aufforderte, setzte sie sich auf einen Reissack und schenkte Tee ein.
»Nimm schon. Du musst nichts dafür bezahlen.«
Ci gehorchte. Er wusste, dass es eine beliebte Strategie der Blumen war – so nannte man die Prostituierten –, Tee anzubieten. Doch er wusste auch, dass man eine Tasse Tee annehmen konnte, ohne irgendwelche Verpflichtungen einzugehen. Er setzte sich vor die junge Frau auf den Boden und betrachtete sie. Ihre bemalten Augenbrauen stachendeutlich aus dem mit Reispulver gepuderten Gesicht hervor. Er nahm einen Schluck Tee, der stark und würzig schmeckte. Die Wärme des Getränks beruhigte ihn. Das Mädchen stimmte ein Lied an, während sie mit den Händen den Flug eines Vogels simulierte.
Die Melodie schwebte durch die Luft und bemächtigte sich nach und nach seiner Sinne. Ci nahm einen weiteren Schluck und dann einen weiteren, ein wohliger Schauer fuhr über seinen Rücken. Jeder Schluck war wie die Umarmung eines geliebten Menschen, ein Wiegenlied, das ihn streichelte und einhüllte. Seine Lider gaben der Erschöpfung der vergangenen Nacht nach und schlossen sich halb. Er genoss das angenehme Gefühl, sich mit den Wellen im Boot zu wiegen. Ein Gefühl ungeahnter Entspannung ergriff Besitz von ihm. Und dann wich alles Wohl und alles Leid einer vollkommenen Schwärze.
* * *
Ci erwachte, als ein Eimer Wasser in seinem Gesicht landete.
»Verdammter Faulpelz! Wo ist das Boot?«, brüllte Wang, während er ihn vom Boden des Landungsstegs hochzerrte.
Ci schaute sich um, er wusste nicht, wie ihm geschah. Seine Ohren dröhnten, während der Alte ihn rücksichtslos schüttelte. Ci brachte kein Wort heraus.
»Hast du dich betrunken, du Nichtsnutz?« Er trat dicht an Ci heran, um seinen Atem zu riechen. »Wo ist der andere Bootsmann? Und wo zum Teufel ist mein Boot?«
Es folgte ein weiterer Eimer Wasser, und Ci schüttelte sich wie ein Hund. Ihm drehte sich alles, vor seinem inneren Auge zogen eine Reihe beunruhigender Ereignissevorbei: die Landung an der Mole, der Landgang des Bootsführers und der Besatzung, das attraktive Mädchen, die Tasse Tee – und dann das Nichts. Er hatte sich von der Dirne hereinlegen lassen, sie hatte ihn betäubt, um das Boot und die Ware zu stehlen. Doch was ihm viel mehr zusetzte, war, dass Mei Mei zusammen mit der Ware verschwunden war. Wang interessierte das wenig, mürrisch kehrte er ihm den Rücken und schwor, dass er ihn und seinen jüngeren Bootsmann in Stücke reißen werde, sollte die Barkasse nicht wieder auftauchen.
9
Ci richtete sich auf, noch immer benommen, und folgte Ze und Wang, die sich bereits im Gewühle von Fischern und Händlern verloren, von einem Boot zum nächsten liefen, auf der Suche nach einem Kahn, mit dem sie die Verfolgung aufnehmen konnten. Überall fragte Wang nach, ob jemand den Vorfall beobachtet habe, ob jemand beobachtet habe, in welche Richtung sein Boot unterwegs sei.
Nach langer Diskussion erklärten sich schließlich zwei Fischer, die auf einer Schaluppe faulenzten, bereit, sie Wang für eine Schnur voll Münzen zu überlassen. Wang verhandelte, dass in diesem Preis auch die beiden Burschen selbst als Hilfskräfte eingeschlossen wären, doch als sie erfuhren, dass Wang Banditen verfolgen wollte, zogen sie letzteres Angebot zurück.
»Elende Feiglinge!«, schimpfte Wang und zahlte ihnen widerwillig den vereinbarten Preis für die Schaluppe.
Er ging mit Ze an Bord. Als Ci es ihnen gleichtun wollte, versperrte
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