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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Qian zu geben, der unter ihren Kleidern steckte. »Das sollte bis nach Lin’an reichen.«
    Wang musterte Ci von oben bis unten, dann spuckte er aus.
    »Hattest du nicht gesagt, du seiest abgebrannt? Egal. Es ist dein Geld … Dein Geld, deine Verantwortung für diese Harpyie.« Er schnaufte verächtlich. »Aber wenn sie dir die Augen auskratzt, will ich keine Klagen hören.«
    * * *
    Am späten Nachmittag erklärte Wang die Reparatur der Barkasse für erledigt. Sie hatten das Leck mit Bündeln aus Binsengras gestopft und mit einem improvisierten Dichtungsmittelaus Fasern und Pech verschmiert. Wang trank einen Schluck Reislikör, bevor er Ze ebenfalls einen anbot. Inzwischen pumpte Ci das Wasser aus dem Boot, da sonst das aufgeschichtete Holz zu verderben drohte. Er hatte seine Arbeit beinahe beendet, als Wang auf ihn zutrat.
    »Hör mal, Junge … Ich müsste das nicht tun, aber trotzdem, danke.«
    Ci wusste nicht, was er antworten sollte.
    »Das habe ich nicht verdient, Herr. Ich habe mich übertölpeln lassen wie ein Dummkopf und …«
    »Das war ja nicht allein deine Schuld. Ich habe dir befohlen, an Bord zu bleiben, und das hast du getan … Es war der andere Lümmel, der die Fracht aus den Augen gelassen hat. Und sieh es mal so: Mich hat die Geschichte von einem unnützen Bootsmann befreit, wir haben das Boot wieder und haben uns ein ganzes Stück Rudern erspart.« Er lachte.
    »Ja. Diese Räuber haben uns ein gutes Stück Arbeit abgenommen.« Jetzt lachte auch Ci.
    Wang untersuchte die Reling. »Wir sollten uns nach Möglichkeit nicht zu lange in Xiongjiang aufhalten«, meinte er dann besorgt. »Dort gibt es nichts zu gewinnen. Höchstens ein blaues Auge oder eine durchgeschnittene Kehle.« Er zog seine Jacke hoch und entblößte eine Narbe, die quer über seinen Bauch lief. »Räuber und Huren! Ein schlechter Ort für eine Pause, hoffen wir, dass die Dichtung hält und wir schnell wieder aufbrechen können.«
    Nachdem sie eine Schüssel gekochten Reis mit Karpfen verschlungen hatten, legten sie ab in Richtung der »Stadt des Todes«, wie Wang Xiongjiang getauft hatte. Wenn die Flicken hielten, meinte er, würden sie einen bis anderthalb Tage dorthin brauchen.
    Während der Überfahrt dachte Ci an Richter Feng unddaran, was er ihm bedeutete. Feng war sein Vorbild, stets hatte Ci seine Weisheit und sein Wissen bewundert. Er wollte so sein wie der Richter, und in Lin’an hoffte er, dieses Ziel zu erreichen. Wang sagte, dass es in Lin’an so viele Möglichkeiten gebe wie Fliegen in einem Misthaufen, und Ci hoffte inständig, dass der alte Bootsführer damit recht behielte.
    In diese Gedanken mischte sich die schmerzhafte Erinnerung an seine Eltern. Seufzend ließ er sich auf einen Reissack sinken und versuchte, seine Trauer zu verbergen, doch Mei Mei bemerkte sie und kuschelte sich besorgt an ihn. Als das Mädchen ihn fragte, was ihm Kummer bereitete, schob Ci seine Niedergeschlagenheit auf das fehlende Essen. Er schnitt eine Scheibe Schweinefleisch herunter, um den Schein zu wahren, und bot auch seiner Schwester eine an. Dann strich er ihr über die Wange und begleitete sie ins Vorschiff.
    Ci starrte gedankenvoll auf das Wasser, als sich die Prostituierte zu ihm gesellte. Wie zufällig berührte sie seine Hände, doch er zog sie schnell zurück, weil er sich seiner Verbrennungen schämte.
    »Ich habe gehört, wie du mich vorhin verteidigt hast …«
    »Täusche dich nicht. Das habe ich für meine Schwester getan.«
    »Glaubst du immer noch, dass ich dich betrogen habe?«
    »Sogar einem Kind könntest du nichts vormachen«, erwiderte er bitter.
    »Weißt du«, sie erhob sich mit herausforderndem Blick, »einen Moment habe ich geglaubt, du wärst anders als die anderen. Dass du etwas in mir erkannt hättest. Aber offenbar machst du dir ebenso wenig eine Vorstellung davon, was eine Frau wie ich erdulden muss. Ich arbeite, seit ich auf der Welt bin, und alles, was ich habe, ist dieser Körper … Und selbst der gehört eigentlich nicht mir.« Pfirsichblüte standendie Tränen in den Augen, doch Ci ließ sich nicht rühren. Ihre Nähe machte ihn unsicher. Er stand auf und ging zu Wang hinüber, der genussvoll die Abendluft einsog. Von diesem sicheren Posten aus warf er Pfirsichblüte immer wieder heimlich scheue Blicke zu. Je öfter er sie anschaute, desto mehr faszinierte ihn ihr Anblick, ihre Grazie, ihre mandelförmigen Augen. Ein Schauer durchlief ihn, als ihre Blicke sich kreuzten. Es war, als beleuchte ein

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