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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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machen mussten. Er suchte ringsum nach einem Stand mit Essen, aber alle kamen ihm unverschämt teuer vor. Endlich fand er einen, der von Bettlern umlagert war.Voller Ekel trat er näher und erkundigte sich nach den Preisen.
    »Du hast Glück, Junge. Heute verschenken wir unser Essen.« Der Mann roch genauso widerlich wie die Speisen, die er anbot.
    Das Geschenk in Gestalt einer Portion Nudeln sollte zwei Qian kosten. Ci empfand das als Diebstahl. Trotzdem wares die Hälfte dessen, was an den anderen Ständen verlangt wurde, so dass er eine Portion kaufte, die der Mann auf ein schmutziges Stück Papier häufte, um sie ihm nicht in die bloßen Hände zu geben.
    Mei Mei runzelte die Stirn. Sie mochte keine Nudeln, nur die Barbaren aus dem Norden aßen so etwas.
    »Dir wird nichts anderes übrigbleiben, als sie zu essen«, erklärte Ci.
    Die Kleine nahm ein paar Nudeln mit den Fingern und steckte sie sich in den Mund, um sie gleich darauf angeekelt wieder auszuspucken.
    »Sie schmecken nach altem Lappen!«, beschwerte sie sich.
    »Und woher weißt du, wie alter Lappen schmeckt?«, entgegnete Ci vorwurfsvoll. »Hör auf zu meckern und iss, so wie ich.«
    Ci steckte sich eine Handvoll in den Mund, doch wie seine Schwester spuckte und spie er.
    »Beim bösen Dämon! Was ist denn das für ein Dreck?«
    »Hör auf zu meckern und iss«, gab Mei Mei befriedigt zurück.
    Ci kippte die verdorbenen Nudeln auf die Erde und konnte gerade noch rechtzeitig zurückweichen, um nicht von zwei Bettlern umgerissen zu werden, die sich auf die Reste stürzten. Als er sie die Nudeln verschlingen sah, bereute er, sie weggeworfen zu haben. Schließlich kaufte er schimpfend für einen Wucherpreis an einem anderen Stand zwei Schälchen gekochten Reis. Er wartete, bis Mei Mei mit ihrer Portion fertig war, und als er merkte, dass sie immer noch Hunger hatte, überließ er ihr seine eigene.
    »Und was isst du?«, fragte das Mädchen mit vollen Backen.
    »Ich hab zum Frühstück schon eine Kuh verzehrt.« Er rülpste demonstrativ.
    »Lügner.« Sie lachte.
    »Doch,das stimmt.Während du geschlafen hast.« Ci grinste und langte gierig in das Schälchen mit Reis, wobei er so tat, als wollte er ihn nur kosten.
    Mei Mei lachte wieder, aber dann wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Schützend legte Ci seine Arme um sie. Die Anfälle wurden immer stärker und häufiger. Er hatte Angst, dass die Kleine so enden könnte wie ihre Schwestern. Langsam ließ der Husten nach, doch in Mei Meis Gesicht las man noch den Schmerz.
    »Gleich geht es dir wieder besser, du wirst sehen.«
    Hastig durchwühlte er den Sack, ohne dass seine zitternden Hände das Medikament fanden. Er schüttete den Inhalt aus, verteilte ihn auf dem Boden und fischte ein paar trockene Wurzeln heraus. Es war die letzte Dosis des Heilkrauts, gerade noch ein paar Fädchen. Weit kämen sie damit nicht mehr. Er steckte Mei Mei die kümmerlichen Reste in den Mund und sagte, sie solle die Wurzeln gut kauen und dann schlucken. Kurz darauf legte sich der Husten.
    »Das kommt vom zu schnellen Essen«, versuchte Ci die Sache herunterzuspielen.
    »Entschuldige«, sagte sie.
    Ihm zog es das Herz zusammen.
    * * *
    Ci musste einen Ort finden, wo er sich um die Kleine kümmern konnte, und so machten sie sich auf den Weg zum Hügel des Phönix, dem Viertel am südlichen Stadtrand, in dem sie bis zu ihrer Rückkehr ins Dorf gelebt hatten. Natürlich würden sie nicht in demselben Haus unterkommen, denn die Wohnungen, die die Präfektur ihren Beamten zur Verfügungstellte, bekam nur, wer noch im Dienst stand. Aber Ci wollte Großvater Yin, einen damals mit seinem Vater befreundeten Nachbarn, bitten, sie einige Tage bei sich aufzunehmen.
    Allmählich wichen die fünfstöckigen Gebäude, welche die mit Steinen gepflasterte Allee des Kaisers säumten, einzelnen Palästen mit geschwungenen Dächern und perfekt gepflegten Gärten. Der Lärm der verstopften Straßen rückte in den Hintergrund, der Gestank von Schweiß und halb verdorbenen Speisen verwandelte sich in Jasminduft, und statt der unzähligen Warenballen, die an Tragestangen aus Bambus und auf Maultierrücken vorüberschaukelten, sah man nun Gefolge mit Dienern und prächtigen Sänften, in denen Edelleute und feine Damen saßen. Einen Augenblick lang fühlte Ci sich wieder als Teil einer Welt, der er einmal angehört hatte.
    Als er an die verzierte Tür klopfte, dämmerte es bereits. Großvater Yin hatte die beiden Kinder immer wie seine eigenen

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