Der Totenleser
festzuhalten, damit sie ihm nicht entglitt.
Als das Gedränge ihnen eine Atempause erlaubte, sah Ci zur Uferstraße hinüber. Nie zuvor hatte er Lin’an vom Fluss aus betrachtet, und die Pracht dieses Anblicks überwältigte ihn. Und je näher sie dem Kai kamen, desto deutlicher kehrte seine Erinnerung an die Stadt zurück, die ihn freudig in Empfang zu nehmen schien wie ein entfernter Verwandter.
Unerschütterlich und stolz lag sie da, an der Westflanke durch die bewaldeten Hügel geschützt und offen nach Süden hin, dort, wo der Fluss an ihr Ufer spülte. So erklärten sich der breite, flutbare Graben und die gewaltige Mauer aus Stein und Erde, die den Zutritt von der Wasserseite her verwehrten.
Unbarmherzig riss Wang ihn aus seiner Träumerei. »Hör auf zu glotzen und rudere lieber.«
Seufzend wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Mehr als eine Stunde brauchten sie, um weit entfernt vom Hauptkai anzulegen, genau vor einem der sieben großen Tore, durch die man vom Fluss aus in die Stadt gelangte. Wang hatte entschieden, dass Ci und Mei Mei dort an Land gehen sollten.
»Das ist am sichersten. Falls dich jemand erwartet, wird er es am Reismarkt tun oder an der Schwarzen Brücke im Norden, wo die Waren ausgeladen werden.«
Ci dankte dem alten Bootsmann aufrichtig für seine Hilfe. Während der dreiwöchigen Reise hatte dieser Mann mehr für ihn getan als alle Nachbarn zu Hause im Dorf. Er dachte, dass Wang trotz seiner scheinbaren Gefühlskälte und seiner demonstrativ schlechten Laune die Art von Mensch war, der man bedenkenlos seinen Hof anvertraute. Wang hatte ihn nach Lin’an mitgenommen und ihm auf der Fahrt Arbeit gegeben. Und alles, ohne eine einzige Frage zu stellen.
Ci wusste, dass er ihn niemals vergessen würde.
Er trat zu Ze, um sich zu verabschieden und einen letzten Blick auf die Wunde an seinem Bein zu werfen. Befriedigt stellte er fest, dass sie gut verheilte und unter dem Druck der Ameisenkiefer bereits vernarbte.
»In ein paar Tagen reißt du die Köpfe ab. Aber deinen lässt du dran, verstanden?«, meinte Ci und klopfte Ze auf den Rücken.
Beide lachten.
Dann nahm er seine Schwester bei der Hand und warf sich das Bündel mit seinen Habseligkeiten über die Schulter.
»Halt«, rief Wang und hielt ihm ein Säckchen hin. »Dein Lohn … Und ein letzter Rat: Ändere deinen Namen. ›Ci‹ wird dir Probleme bringen.«
Unter anderen Umständen hätte Ci das Geld abgelehnt, doch er wusste, dass er selbst den Beutel, in dem es steckte, brauchen würde, um die ersten Tage in Lin’an zu überstehen. Er fädelte die Münzen auf eine Schnur und band sie sich um den Bauch.
»Ich …«, begann er, dann brach er ab. Er zog den Knoten fest und ließ das Hemd darüberfallen.
* * *
Es fiel ihm schwer, sich von dem Alten zu trennen. In den Tagen der Reise hatte ihn dessen mürrischer Charakter an seinen Vater erinnert, und nun, da sie Abschied nahmen, hörte er in seinem Kopf die rätselhaften Worte widerhallen, die Wang auf dem Boot gesagt hatte: »Dieser Fahnder hat dein Blut gerochen, und er wird nicht eher ruhen, als bis er es gekostet hat.«
Wie ein Welpe zitterte er vor der hohen, weißgetünchten Mauer mit dem Großen Tor in der Mitte. Das Maul des Drachen, es war die letzte Hürde, die er überwinden musste, um seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Und jetzt, da dieser zum Greifen nah war, befiel ihn eine unbekannte Furcht.
Denk nicht nach, denk einfach nicht darüber nach, beschwor er sich.
»Komm«, sagte er zu Mei Mei, und inmitten der brodelnden Menge, die sich wie eine Springflut in die Stadt ergoss, durchquerten sie das Große Tor.
Hinter der Mauer war alles noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte: dieselben Elendshütten der Uferzone, der penetrante Fischgeruch, das Durcheinander der Händler und Trödler. Dazu der Lärm der Karren, die schwitzenden Knechte, die gegen ihre störrischen Tiere ankämpften, die roten Lampions über den Eingängen der Werkstätten, die Geschäfte für Seide, Jade und Kleinkram, die unzähligen bunten Läden, dicht gedrängt wie achtlos durcheinander gewürfelte Kacheln, das Gewühl der Marktstände, das Gebrüll der Verkäufer, die Kunden anlocken oder Kinder verjagen wollten, die Bottiche voller Speisen und Getränke.
Sie liefen ohne festes Ziel umher, bis Mei Mei plötzlich beharrlich an seiner Hand zerrte. Er folgte ihrem Blick, der sehnsüchtig auf der Auslage eines besonders einladenden Süßwarenstands haftete, dessen Besitzer eine
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