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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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ignorierte die Stimmen und das Gelächter hinter den Vorhängen entlang des Ganges und stieg eine baufällige Treppe hinauf, die in ein finsteres Loch zu führen schien. Ihm wurde übel, so sehr stank es nach Urin und altem Schweiß. Ein müde flackerndes Licht erleuchtete den Raum spärlich, der zum Glück jedoch auf den Fluss hinausging, den man durch die zum Ausbessern der Ziegelwand verwendeten Binsengräser erblicken konnte. Am Boden lud eine fleckige Strohmatte zu allem anderen als zum Hinlegen ein, weshalb er sie mit einem Fußtritt zur Seite stieß und ein Tuch aus seinem Bündel zog. Mei Meis Husten unterbrach ihn. Verdammt, er musste unbedingt die Medizin besorgen!
    Er sah sich um. Das Zimmer war so niedrig, dass man kaum aufrecht gehen konnte. Außerdem schien es als Abstellkammer benutzt worden zu sein, denn auf dem Boden lagen Dutzende Bambusstangen herum, wie sie bei Reparaturarbeiten Verwendung fanden. Er nahm sie und errichtete aus ihnen an der Wand ein kleines Gerüst, das er mit der Matte abdeckte, so dass eine Art Verschlag entstand. Erschöpft ließen sie sich auf ihre improvisierte Schlafstätte sinken.
    Als sie am nächsten Morgen erwachten, sah Ci seine Schwester ernst an.
    »Mei Mei, hör gut zu, was ich dir jetzt sagen werde. Es ist sehr wichtig.« Das Mädchen riss die Augen auf und nickte verängstigt. »Ich muss weg, aber ich komme bald zurück. In der Zwischenzeit … Erinnerst du dich, wie du dich versteckt hast, als unser Haus eingestürzt ist? Ich möchte, dass du dasselbe hinter diesen Bambusstangen machst. Und dass du nicht sprichst, nicht hinausguckst und nicht hinausgehst, bis ich wieder da bin. Hast du mich verstanden? Wenn du das machst, bekommst du die Bonbons, die wir bei dem Wahrsager gesehen haben.«
    Mei Mei nickte. Ci wollte glauben, dass sie ihm gehorchen würde. Er hatte ohnehin keine andere Wahl.
    Während er ihr half, sich zu verstecken, betete er zu seinen Ahnen, sie zu beschützen. Dann suchte er unter den wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren, etwas, das er verkaufen konnte. Allein das Songxingtong , das Strafgesetzbuch, das er von seinem Vater geerbt hatte, besaß einen gewissen Wert. Sofern er jemanden fand, der es kaufen wollte.
    Ihm fiel ein, dass die besten Bücher unter den Bäumen am Sommerpavillon des Orangengartens angeboten wurden, und so schlug er ohne Umwege die Richtung zum Kaiserlichen Kanal ein. Dort erkaufte er sich als Ruderer eine Freifahrt in einem der nach Norden steuernden Lieferkähne – das Schiff war eindeutig das schnellste Mittel, um sich durch Lin’an zu bewegen.
    Glücklicherweise erreichte er genau zur richtigen Zeit den Büchermarkt, nämlich als die Studenten ihre Lehrveranstaltungen verließen, um einen Tee zu trinken und in den neuen, frisch aus den Druckereien von Hionha eingetroffenen Bänden herumzustöbern. Inmitten von Dutzenden junger Beamtenanwärter, fein ausstaffiert in ihren schwarzen Hemden, sah Ci sich selbst, wie er noch ein Jahr zuvor durch ebendiesen Park geschlendert war und nach forensischen Texten Ausschau gehalten hatte, mit denen er seinen Wissensdurst stillen konnte. Obwohl er durch Richter Feng von der Existenz einiger einschlägiger Werke wusste, hatte er doch nie eines davon entdeckt. Während er sich den auf Rechtsthemen spezialisierten Ständen näherte, lauschte er voller Neid den an sein Ohr dringenden Gesprächen, die ihm seine eigenen Tage an der Universität in Erinnerung riefen: Diskussionen über die Bedeutung des Wissens, über die Gefahr durch die Invasionen im Norden oder über die neuesten Strömungendes Neokonfuzianismus. Mit schlechtem Gewissen überraschte er sich dabei, wie er Träumen nachhing, statt den Verkauf seines Buches voranzutreiben. Er ließ die Stände, an denen Poesie feilgeboten wurde, hinter sich und lenkte seine Schritte hin zu den Verkäufern juristischer Titel. Zufrieden beobachtete er, dass das Strafgesetzbuch ein gefragtes Werk war. Allerdings ging damit einher, dass es ein breites Angebot zu beinahe lächerlichen Preisen gab. Sein Blick fiel auf ein prachtvoll in purpurfarbene Seide gebundenes Exemplar des Songxingtong , jenem ganz ähnlich, das er eingewickelt unterm Arm trug. Er trat zu dem Buchhändler und zeigte darauf.
    »Wie viel kostet das?«
    Der Mann erhob sich von seinem Schemel und trat langsam näher, bis er mit der Hand nach dem Buch greifen konnte. Nachdem er sich den Staub von den Händen geklopft hatte, zeigte er ihm die Innenseiten, als

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