Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
Vom Netzwerk:
liebkoste er eine schöne Frau.
    »Ich sehe, dass du ein echtes Kunstwerk zu schätzen weißt«, schmeichelte er. »Ein handgeschriebenes Songxingtong in der zarten Kalligraphie des Meisters Hang. Das ist etwas anderes als diese billigen, massenhaft hergestellten Holzschnittkopien.«
    Ci gab ihm recht.
    »Wie viel?«, wiederholte er.
    »Zehntausend Qian. Und das ist ein Geschenk.« Er hielt ihm das Buch hin, damit er es bewundern konnte.
    Freundlich lehnte Ci ab. Er hatte vergessen, dass alles in Lin’an ein Geschenk war, aber den vornehmen Leuten nach zu urteilen, die sich die anderen Bücher anschauten, mussten die Ausgaben in den Holzkisten des Händlers wahre Kostbarkeiten sein. Da bemerkte er einen älteren Herrn mitgezwirbeltem Schnurrbart, der sich für jenes Gesetzbuch interessierte, das der Verkäufer ihm gerade gezeigt hatte. Der Mann trug eine glänzende rote Toga und eine dazu passende Flügelkappe, die typische Kleidung eines großen Lehrmeisters. Vorsichtig blätterte er in dem Band. Seine Augen leuchteten, während er mit dem langen Nagel seines kleinen Fingers sanft über den Text glitt. Er fragte den Händler nach dem Preis und verzog bei der Antwort das Gesicht. Zweifellos erschien es ihm teuer, doch statt das Buch zurückzugeben, untersuchte er es weiter. Bevor er es wieder an seinen Platz stellte, hörte Ci ihn sagen, dass er Geld holen werde, um es zu kaufen. Ci zögerte keinen Moment.
    »Verzeiht meine Kühnheit, ehrenwerter Herr«, sprach er ihn an, während sie sich von dem Stand entfernten. Der Gelehrte musterte ihn erstaunt.
    »Leider habe ich es eilig. Wenn du in die Akademie aufgenommen werden willst, musst du mit meinem Sekretär reden«, sagte er, ohne seine Schritte zu verlangsamen.
    »Nein. Entschuldigt bitte, aber ich habe gesehen, dass Ihr Euch für eine alte Ausgabe interessiert habt, und zufällig bin ich im Besitz eines ähnlichen Exemplars, das ich Euch viel günstiger verkaufen würde …«
    »Wirklich? Du besitzt ein handgeschriebenes Songxingtong ?«, fragte er misstrauisch.
    »Für fünftausend Qian könnt Ihr es haben.«
    »Bedauere, junger Mann, aber ich kaufe nicht von Dieben.«
    »Ihr täuscht Euch, mein Herr.« Ci wurde rot. »Das Buch hat meinem Vater gehört, und Ihr könnt mir glauben, dass ich es nicht verkaufen würde, wenn ich nicht das Geld bräuchte.«
    »Nun gut. Und wer ist dein Vater?«
    Ci presste die Lippen zusammen. Da er wusste, dass er gesucht wurde, wollte er seine Identität nicht enthüllen. Der Alte betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und zog die Augenbrauen hoch. Er gab ihm das Buch zurück und drehte sich um.
    »Mein Herr, ich schwöre Euch, dass ich nicht lüge.« Der Mann ging weiter, doch Ci lief ihm hinterher und hielt ihn fest. »Ich kann es Euch beweisen!«
    Verärgert blieb der Gelehrte stehen.War es schon eine Beleidigung, einen Fremden ohne seine Zustimmung anzusprechen, so erst recht, ihn festzuhalten. Ci fürchtete schon, dass der Mann die auf dem Markt patrouillierende Streife herbeirufen könnte, doch zum Glück tat er es nicht. Erneut richtete der Alte seinen prüfenden Blick auf ihn.
    »Einverstanden. Ich bin gespannt.«
    Ci räusperte sich. Er brauchte das Geld, also musste er diesen Mann überzeugen. Ihm blieb nur diese eine Chance. Er schloss die Augen und konzentrierte sich.
    »Das Songxingtong . Erste Abteilung:Von den gewöhnlichen Strafen.« Er holte Luft und fuhr fort: »Die leichteste der Strafen besteht darin, dass der Verurteilte mit dem dünnen Ende des Bambus geschlagen wird; sie soll Scham für seine Verfehlungen in ihm wecken und ihm eine nützliche Richtlinie für sein künftiges Verhalten geben. Die nächste Strafe wird mit dem dicken Ende des Bambusstabes ausgeführt und zielt darauf ab, stärkere Schmerzen zuzufügen und ein deutlicheres Beispiel der Abschreckung darzustellen. Die dritte Strafe bedeutet die befristete Verbannung über eine Entfernung von fünfhundert Li , sie wird mit der Absicht eingesetzt, dass der Schuldige Reuegefühle entwickelt, die ihn zu einer Änderung seines Verhaltens veranlassen. Die vierte Strafe hat die endgültige Verbannung in ein mindestens zweitausend Li entferntes Gebiet zum Inhalt, und sie wird auf jene Straftäter angewendet, die, obwohl sie eine Gefahr für das Gemeinwesen darstellen, noch nicht die Höchststrafe verdient haben. Die fünfte Strafe schließlich ist die Hinrichtung der Verbrecher durch Enthaupten oder Erhängen.«
    Ci erwartete, dass der Gelehrte ihm Beifall

Weitere Kostenlose Bücher