Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
Vom Netzwerk:
Art Wahrsagerwar, wenn man dem pompösen bunten Schild Glauben schenkte, das an seinem klapprigen Tischchen lehnte. Mei Mei tat ihm leid, ihr Gesicht war voller Hoffnung, aber er konnte das wenige Geld, das er von Wang bekommen hatte, nicht für Süßigkeiten ausgeben. Er wollte ihr das gerade erklären, als der Wahrsager ihm zuvorkam.
    »Drei Qian.« Und er hielt dem Kind zwei Bonbons hin.
    Ci musterte das Männchen, das seine Ware vor Mei Meis Augen in der Luft schwenkte und verschlagen grinste, wobei es seine zahnlosen Kiefer entblößte. Der Mann war mit einem alten Eselsfell bekleidet, das seinem Aussehen eine abstoßende, doch auch extravagante Note verlieh, ebenso wie die seltsame Mütze aus trockenen Zweigen und kleinen Windmühlen, die auf seinem Kopf saß und unter der ein Knäuel grauer Haare hervorlugte. Noch nie hatte Ci jemanden gesehen, der so sehr einem Affen glich.
    »Drei Qian«, wiederholte der Mann und grinste weiter.
    Mei Mei wollte die Bonbons nehmen, aber Ci hinderte sie daran.
    »Das geht leider nicht«, flüsterte er seiner Schwester ins Ohr. Mit drei Qian könnten sie eine Portion Reis kaufen, die ihnen Nahrung für den ganzen Tag böte.
    »Aber mir reichen die Bonbons«, entgegnete Mei Mei mit ernster Miene.
    »Die Kleine hat recht«, mischte sich der Verkäufer ein, dem nichts entging. »Hier, nimm. Probier mal.« Er reichte ihr ein in leuchtend rotes Papier eingewickeltes Stück Konfekt.
    »Hör auf zu quengeln. Wir haben kein Geld.« Ci schob ihre Hand weg. »Komm, gehen wir.«
    »Aber der Mann ist ein Hellseher«, jammerte Mei Mei, während sie sich entfernten. »Wenn wir die Bonbons nicht kaufen, verhext er uns.«
    »Der Mann ist ein Schwindler. Wäre er tatsächlich ein Hellseher, wüsste er, dass wir sie nicht kaufen können.«
    Mei Mei senkte die Stirn. Sie räusperte sich und hustete. Ci blieb abrupt stehen. Dieser Husten war ihm nur zu bekannt.
    »Geht es dir gut?«, erkundigte er sich besorgt.
    Die Kleine hustete wieder, nickte aber. Doch Ci glaubte ihr nicht.
    Auf dem Weg zur Allee des Kaisers blickte Ci sich um. Er kannte die Gegend gut, all die Arbeitssuchenden, Faulpelze, Puppenspieler, Bettler, Marktschreier und Diebe, die dort herumwimmelten – und er kannte die Tricks, mit denen sie sich durchzuschlagen versuchten. Als er für Richter Feng gearbeitet hatte, war kein Tag vergangen, an dem sie nicht zur Aufklärung irgendeines Verbrechens in dieses Viertel am Stadtrand gekommen waren. Wegen seiner Lage am Hafen zwischen der inneren – der ursprünglichen – und der äußeren Stadtmauer galt es als das ärmste und gefährlichste Viertel von Lin’an. Mit Schrecken dachte er daran zurück: Frauen hatten sich an den Ecken verkauft und vom Alkohol zerstörte Männer auf der Straße gelegen. Ein unvorsichtiger Blick konnte einen das Leben kosten, und es kam vor, dass man wegen einer falschen Bewegung seine Knochen im Kanal wiederfand. Aber es war auch der Ort, wo die Informanten hausten, allein deshalb hatte es den Richter und ihn immer wieder hierhergeführt.
    Aus all diesen Gründen beunruhigte es Ci, nicht zu wissen, wo sie die Nacht verbringen würden.
    Er verfluchte das Gesetz, das die Staatsdiener dazu zwang, ihre Aufgabe in einer fremden Stadt auszuüben und nicht in ihrem Geburtsort. Die Maßnahme war ergriffen worden,um Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und Bestechung vorzubeugen, wie sie in der Regel zwischen Mitgliedern einer Familie und sich nahestehenden Personen auftraten. Die Kehrseite dessen war jedoch, dass die Beamten dadurch von ihren Angehörigen getrennt wurden. Deshalb hatten Ci und seine Schwester niemanden in Lin’an. Und auch nirgendwo sonst. Ihre Verwandten väterlicherseits waren in den Süden gezogen und bei einem Taifun, der die Küste verwüstet hatte, ums Leben gekommen.Von der Familie seiner Mutter wusste er nichts.
    Sie mussten sich beeilen, wenn sie vor Einbruch der Dämmerung einen Unterschlupf finden wollten.
    Mei Mei klagte über Hunger, und das mit Recht. Schon seit geraumer Zeit ertrug sie das Knurren ihres Magens, ohne zu murren. Unwillig setzte sie sich auf die Erde.
    »Ich will etwas essen!«
    »Wir haben jetzt keine Zeit. Steh auf, oder ich schleife dich hinterher.«
    »Wenn wir nichts essen, sterbe ich, und dann musst du mich für immer hinter dir her schleifen.« Ihr Gesichtsausdruck verriet Entschlossenheit.
    Ci blickte sie zerknirscht an. Obwohl sie dringend eine Unterkunft brauchten, wurde ihm bewusst, dass sie auch eine Pause

Weitere Kostenlose Bücher