Der Totenleser
auf den Trauerzug, der den Hügel heraufkam.
Der Wahrsager stieg wieder in seine Grube hinab und schaufelte, als ginge es um sein Leben. Als der Tätowierte sich abgewandt hatte, sprang Ci ebenfalls in das Loch.
»Was machst du denn?«
»Siehst du das nicht? Helfen«, antwortete Ci und wühlte mit den Händen in der Erde. Der Alte beobachtete ihn.
»Nimm die hier.« Er reichte ihm eine Hacke.
Sie gruben gemeinsam, bis sie ein Loch ausgehoben hatten, dessen Länge der ganzen und dessen Tiefe der halben Körpergröße eines Erwachsenen entsprach. Während der Arbeit schwieg Xu, doch als sie fertig waren, holte er einen schmutzigen Krug aus der Tasche, goss eine dunkle Flüssigkeit in einen Becher und hielt ihn Ci hin.
»Hast du keine Angst, mit einem Verdammten zu trinken?«
»Trink schon und lass uns aus diesem Loch raussteigen«, brummte Xu.
* * *
Während die Angehörigen ihre letzten Gebete sprachen, blieben Ci und Xu neben dem Grab stehen. Auf ein Zeichen des Familienältesten ließen sie den Sarg in die Grube hinab. Sie hatten es fast geschafft, als Ci plötzlich wegrutschte, so unglücklich, dass der Kasten ihnen herunterfiel und sich beim Aufprall öffnete.
Ci erstarrte. »Bei allen Weisen! Was kann noch alles passieren?«, flüsterte er entsetzt.
Sogleich wollte er den Deckel,dessen Nägel sich gelöst hatten, wieder schließen, doch Xu stieß ihn beiseite, als könnteer mit der Heftigkeit seiner Geste das Geschrei der Angehörigen besänftigen,die ihren Toten mit Erde beschmutzt sahen.
»Holt die Kiste da raus, ihr Idioten«, rief die Witwe. »Müsst ihr ihn noch nach seinem Tod quälen?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Mit Hilfe der Angehörigen hoben Ci und Xu den beschädigten Sarg aus der Grube, und alle zusammen brachten sie ihn ins Mausoleum, um die Kiste zu reparieren und den Toten einer neuerlichen Reinigung zu unterziehen. Jammernd warteten die Frauen vor der Tür, während die Männer den Leichnam herrichteten. Xu hatte sich bei dem Missgeschick am Finger verletzt, und als Ci bemerkte, dass er seine Hand kaum benutzen konnte, nahm er einen mit Jasminwasser befeuchteten Schwamm und säuberte selbst die Kleidung des Verstorbenen. Die Angehörigen ließen ihn gewähren, denn es brachte Unglück, den Körper eines Toten zu berühren. Ihn nach dem Hinscheiden zu stören konnte obendrein seine spätere Rache zur Folge haben.
Ci war den Umgang mit Leichen gewohnt, und so kümmerte es ihn nicht weiter, dass er das Hemd des Toten aufknöpfen musste, um die Erde zu entfernen, die unter die Kleidung gerutscht war. Während er den Körper mit dem Schwamm wusch, entdeckte er mehrere Druckstellen am Hals. Er hielt inne und blickte denjenigen an, der sich als der Vater vorgestellt hatte.
»Hat jemand den Toten geschminkt?«, fragte er ihn.
Der Mann wunderte sich über die Frage, verneinte jedoch stumm. »Wie ist er denn gestorben?«, fragte Ci. Er schob das Hemd ein wenig weiter zurück, um den Nacken zu untersuchen.
»Er ist vom Pferd gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«
Ci schüttelte den Kopf. Dann zog er die Lider des Toten hoch, aber Xu mischte sich ein.
»Was glaubst du eigentlich, was du hier tust? Wirst du wohl Ruhe geben und deine Arbeit zu Ende bringen«, drohte er.
Ci hörte nicht auf ihn. Im Gegenteil, er blickte den Trauernden entschlossen an und sprach ohne lange Überlegung.
»Mein Herr, Euer Sohn ist nicht so gestorben, wie Ihr sagt.«
»Wovon redest du?« stammelte der Vater des Toten verdutzt. »Sein Schwager hat ihn fallen sehen.«
»Nun, vielleicht stimmt das, aber irgendwer muss die Situation ausgenutzt und ihn danach erwürgt haben.« Ci wies auf die violetten Schatten zu beiden Seiten des Halses. »Sie waren unter der Schminke verborgen«, fügte Ci hinzu. »Und sie entsprechen zweifelsfrei dem Abdruck zweier kräftiger Hände. Seht nur!« Er zeigte ihnen die nur durch einen schmalen Hautstreifen voneinander getrennten Hämatome. »Und hier.«
Die Angehörigen sahen sich erstaunt an und fragten, ob er ganz sicher sei. Ci nickte. Dann erkundigte er sich, ob sie die Beerdigung fortsetzen wollten, doch die Eltern des Verstorbenen kamen überein, sie abzubrechen und vor Gericht Anzeige zu erstatten.
* * *
Während Ci ihm den gebrochenen Finger schiente, grübelte Xu vor sich hin. Schließlich platzte es aus ihm heraus.
»Sag mir eins: Bist du verhext?«
»Natürlich nicht.« Ci lachte.
»Dann sind wir Partner«, verkündete er entschieden.
Ci musterte ihn
Weitere Kostenlose Bücher