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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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den schmutzigen Leinenbeutel. Er wollte gerade gehen, als Ci ihm in den Weg trat.
    »Dieses Kind braucht weitere medizinische Betreuung«, bemerkte er.
    Der Greis musterte ihn verächtlich und spuckte aus.
    »Das Einzige, was ich brauche, sind neue Kinder.«
    Ci wollte etwas entgegnen, da alarmierte ihn das Geschrei in seinem Rücken. Als er sich umwandte, sah er die Angehörigen des kleinen Eunuchen wehklagend um ihren Sohn hocken, der mit bleichem Gesichtchen in einer Blutlache lag. Mit einem Satz war er bei ihnen und starrte entsetzt auf das verstümmelte Kind, für das jede Hilfe zu spät kam.
    Der Barbier war verschwunden, und von den Schreienherbeigelockt, wollten zwei Wachmänner Ci gleich an Ort und Stelle verhaften, da seine blutverschmierten Hände ihn als Mörder zu überführen schienen.
    Ci gelang es, ihnen zu entwischen. Rasch schlüpfte er in die Menschenmenge und fand wenig später Zuflucht unter einer steinernen Brücke, wo er sich die Hände wusch. Dann blickte er zum Himmel.
    Nun ist es schon Mittag, und ich weiß immer noch nicht, wie ich den Wirt bezahlen soll, dachte er niedergeschlagen.
    Eine kleine Grille kletterte auf seinen Schuh.
    Ci verjagte sie mit einer Fußbewegung. Doch als das Tierchen sich abmühte, wieder hinaufzugelangen, fiel ihm der Vorschlag des Wahrsagers ein.
    Beim bloßen Gedanken daran wurde ihm übel. Es widerstrebte ihm, seine Krankheit zu benutzen, aber die Umstände, in denen er und seine Schwester sich befanden, zwangen ihn, diese Möglichkeit zu erwägen. Vielleicht war dies das Einzige, wozu die Krankheit in Wirklichkeit taugte: um als Jahrmarktattraktion von einem Kampf zum nächsten zu ziehen.
    Er betrachtete das dunkle Wasser des Kanals, wie es sich trübe in Richtung des großen Flusses wälzte. Am liebsten wäre er hineingesprungen und hätte sich von den kalten Fluten verschlingen lassen, doch der Gedanke an seine Schwester hielt ihn zurück.
    Er wendete den Blick von der Verlockung eines leichten Auswegs ab und erhob sich entschlossen. Sollte dies nun sein Schicksal sein, so war er gewillt, dagegen anzukämpfen. Er spuckte neben die Grille und machte sich auf die Suche nach dem Wahrsager.
    * * *
    Ci durchforstete jeden Winkel, doch der Gaukler blieb unauffindbar. Er lief die kleinen Märkte im Fischerbezirk ab, die Stände mit Pökelfisch, den Stoffmarkt bei den Seidengeschäften am Kai und auch den eleganten Kaiserlichen Markt, den größten der Hauptstadt mit dem besten Warenangebot. Überall befragte er Laufburschen, fliegende Händler, Gauner und Arbeitslose, ohne dass ihm jemand weiterhelfen konnte. Es war, als hätte die Erde den Alten verschluckt, als hätte sie seine Spur getilgt und stattdessen hundert andere Scharlatane ausgespuckt, die seinen Platz einnahmen.
    Er wollte sich schon geschlagen geben, als ihm einfiel, dass der Wahrsager ihm nach dem Drachentest von seiner Anstellung auf dem Großen Friedhof von Lin’an erzählt hatte.
    * * *
    Auf dem Weg zu den Feldern des Todes fragte Ci sich, ob er wohl das Richtige tat. Letzten Endes war seine Anwesenheit in der Hauptstadt seiner hartnäckigen Begeisterung für das Studium geschuldet, einer Sache, die ihm nichts nützen würde, wenn er sich in den klügsten Toten des Kaiserreichs verwandelte.
    Er überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, in eine andere Stadt zu fliehen und sich an einem Ort zu verstecken, wo niemand sie beide kannte, fern den bedrohlichen Tentakeln seines Verfolgers Kao. Und doch war er immer noch hier und versuchte, an sein altes Leben anzuknüpfen, im Namen eines Traums, den jeder vernünftige Mensch für aussichtslos halten würde.
    Ci schloss die Augen und dachte an seinen Vater, den Mann, von dem er jetzt wusste, dass er ihre Ehre befleckt hatte, der das Andenken seiner Familie verraten und ihn undMei Mei für alle Zeiten der Schande preisgegeben hatte. Er spürte einen Stich im Herzen. Sein Vater … Es erschien ihm unvorstellbar, dass derselbe Mensch, der ihn zu Rechtschaffenheit und Opferbereitschaft erzogen hatte, gestohlen und Fengs Vertrauen missbraucht haben sollte. Aber die Berichte waren eindeutig. Ci hatte sie leider gründlich gelesen und erinnerte sich genau an jeden einzelnen Anklagepunkt. Er schwor sich, niemals so unwürdig, so falsch, so gemein zu sein wie sein Vater. Vor Wut trat er gegen die Bordwand der Barkasse, mit der er fuhr. Doch während sein Verstand die düsteren Gedanken nährte, weigerte sich etwas in seinem Inneren, an die Schuld seines Vaters

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