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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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überrascht. Gerade erst hatte der Wahrsager ihm erklärt, dass niemand gegen ihn antreten werde,und jetzt strahlte er plötzlich wie ein armer Schlucker, der unverhofft einen Palast geschenkt bekommen hat. Ci sollte es recht sein. Er brauchte dringend einen kleinen Vorschuss, mit dem er die Herberge bezahlen konnte. Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu, und seine Sorge wuchs beständig. Xu lachte herzhaft, als er ihm davon erzählte.
    »Geldsorgen? Ach, was! Wir werden reich, Mann!«
    Der Alte suchte in seinem Beutel und holte so viele Münzen heraus, wie Ci benötigte, um die Miete für eine Woche im Voraus zu bezahlen. »Und jetzt schwöre bei deiner Ehre, dass du morgen früh wieder hier auf dem Friedhof bist.«
    Ci zählte die Münzen ab und versprach es.
    »Wir machen also einen Kampf?«
    »Natürlich nicht. Es wird gefährlicher werden, aber auch viel besser.«
15
    Für jeden anderen wäre die Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen ein Geschenk des Himmels gewesen, doch für Ci war sie bisweilen ein heimlicher Feind, der ihm erbarmungslos das Messer in den Rücken stieß.Während das Schiff langsam zurückfuhr, betastete er seine Rippen auf der Suche nach den Anzeichen für einen Bruch oder eine Prellung. Danach machte er dasselbe mit seinen Beinen, indem er zuerst sanft über sie strich und dann noch einmal kräftiger. Das linke erschien ihm normal, das rechte hingegen wies eine besorgniserregende bläuliche Färbung auf. Da er nicht viel tun konnte, zog er das Hosenbein wieder herunter und musterte die süßen Reiskekse, die er für seine Schwester gekauft hatte. Er dachte an ihr glückliches Gesicht und lächelte. Immer wiederzählte er auf der Fahrt die Münzen, die Xu ihm gegeben hatte, und überzeugte sich davon, dass sie für eine Woche Unterkunft und Verpflegung reichten.
    In der Pension platzte Ci in einen Streit zwischen dem Gastwirt und einem hässlichen jungen Burschen hinein. Als der Gastwirt ihn erblickte, bedeutete er ihm unwirsch, dass Mei Mei oben sei, und diskutierte weiter. Ci lief erleichtert die Treppe hinauf und betete, der Gesundheitszustand der Kleinen möge sich nicht verschlechtert haben.
    Er fand sie unter einer Leinendecke schlafend, friedlich atmend wie ein vor kurzem gesäugtes Hündchen. In den Mundwinkeln klebten Reste von Reis, woraus er schloss, dass sie gut zu Abend gegessen hatte. Sanft berührte er ihre Stirn. Ihr Fieber schien nicht mehr so hoch zu sein wie am Morgen, das beruhigte ihn. Er weckte sie mit leiser Stimme, um sie zu fragen, ob sie ihre Medizin genommen habe, und das Mädchen nickte mit geschlossenen Augen. Dann streckte Ci sich der Länge nach aus, gedachte seiner Ahnen, ohne den Vater zu vergessen, und schlief endlich ein.
    Am nächsten Tag erwartete ihn eine unerfreuliche Nachricht. Der Wirt war zwar bereit, ihm das Zimmer zu reservieren, so lange er wollte, sagte aber, er könne sich nicht um das Mädchen kümmern, nicht einmal gegen Bezahlung. Ci sah ihn verständnislos an.
    »Ist doch sonnenklar.« Der Inhaber rührte weiter in der Frühstückssuppe. »Das hier ist kein Ort für Kinder. Und du solltest der Erste sein, der das merkt«, fügte er hinzu.
    Ci begriff immer noch nicht. Er dachte, der Gastwirt verlange einfach mehr Geld. Also begann er zu handeln.
    »Bei allen guten Geistern! Darum geht es nicht«, hielt ihm der Wirt entgegen. »Hast du gesehen, was für Volk in dieser Bude ein und aus geht? Und wenn ich Volk sage, ist dasnoch nett. Wenn deine Schwester hier bleibt, wirst du eines Abends zurückkommen, und sie ist weg. Oder schlimmer: Du findest sie mit gespreizten Beinen, und das Blut läuft aus ihrer heiligen Grotte. Dann wirst du mich umbringen wollen, und am Ende bringe ich dich um.Wirklich, ich mag dein Geld. Aber ich habe keine Lust, dich umzubringen und im Knast zu landen. Du weißt also Bescheid: Zimmer, ja – die Kleine, nein.«
    Ci musste schlucken. In dem Moment trat ein halbnackter Mann aus einem Zimmer, wenig später sah er die Wirtstochter aus demselben Zimmer kommen. Da überlegte er nicht länger. Er packte seine Sachen, zahlte die Rechnung und verließ mit Mei Mei die Pension.
    * * *
    All seine Erklärungen nützten nichts. Als er mit Mei Mei auf dem Friedhof auftauchte, war Xu schlicht entsetzt.
    »Glaubst du vielleicht, das hier ist ein Hospiz? Ich habe dir gesagt, dass die Sache gefährlich wird«, zischte er, während er sie beide packte und an einen geschützten Ort lotste. Offenbar war er ernsthaft verärgert. Er

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