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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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zu glauben.
    Erst eine plötzliche Erschütterung des Holzbodens riss Ci aus seiner Grübelei. Die Barkasse, auf der er sich hatte treiben lassen, schrammte mit der Seite schwerfällig gegen die Kaimauer der Anlegestelle des Westsees, gerade zu Füßen jenes Hügels, auf dem sich der Friedhof befand.
    Während er die sanfte Erhebung vor den Feldern des Todes hinaufging, beobachtete Ci die Menschenmenge, die sich in dieselbe Richtung bewegte. Üblicherweise versammelten sich die Familienmitglieder nach der Arbeit, bepackt mit vielfältigen Speisen, um ihre Ahnen mit Opfergaben zu ehren. Ci beschleunigte seine Schritte, ließ das Gefolge der Klageweiber hinter sich und überholte die Männer, die sich mit einem Sarg auf den Schultern dem mächtigen Eingangsportal näherten.
    Auf dem Friedhof irrte er zunächst zwischen den bescheidenen Grabpfosten umher, ging dann weiter den Hügel hinauf zu den vornehmeren Gräbern und Ehrenhainen. Dort brachten wohlhabende Familien, ganz in Weiß gekleidet, ihren Verstorbenen frisch zubereiteten Tee dar und entzündeten Weihrauchstäbchen, deren Duft mit dem Geruchnach grünem Gras verschmolz. Auf dem Gipfel angekommen, steuerte Ci auf einen dunkelbraunen Pavillon zu, dessen geschwungenes Dach ihn an die Flügel eines unheilvollen Raben erinnerte. Vor dem Gebäude traf er auf einen düster dreinblickenden Gärtner, der ihm sagen konnte, dass er den Wahrsager am Ewigen Mausoleum fand.
    Ci bedankte sich für die Auskunft und gelangte nach seiner Beschreibung zu einem kleinen Tempel mit quadratischem Grundriss, der wie eine Erscheinung aus dem Dunst auftauchte. Dort schaufelte ein nur zur Hälfte sichtbares Männlein, bei jedem Spatenstich fluchend, Erde aus einem offenen Grab. Als er den Wahrsager erkannte, zögerte Ci. War es eine gute Idee, dass er hierhergekommen war? Er hörte, wie der Mann schnaufte. Dann trat er, immer noch zweifelnd, langsam näher.
    Er wollte schon fast wieder gehen, da hob der Wahrsager den Blick. Er rammte den Spaten in den Erdhaufen und richtete sich auf. Ci wusste nicht, wie er anfangen sollte, doch der Alte kam ihm zuvor.
    »Darf man erfahren, was zum Henker du hier machst?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du noch mehr Geld willst … Vergiss es, ich habe es schon für Huren und Wein ausgegeben. Du kannst dich also dahin zurückscheren, woher du gekommen bist.«
    Ci runzelte die Stirn.
    »Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen. Gestern Abend zumindest hatte es den Anschein.«
    Xu schnaubte verächtlich.
    »Gestern Abend war ich betrunken.Verschwinde, ich habe zu tun.«
    »Weißt du nicht mehr, dass du mir gestern vorgeschlagen hast …«
    »Pass auf, mein Freund, dank dir weiß jetzt ganz Lin’an, was ich mit den Grillen gemacht habe. Und welch Glück, dass ich heute Morgen rechtzeitig abhauen konnte, denn wenn mich diese Irren, die mir ans Leder wollten, gekriegt hätten, würde ich jetzt selbst hier liegen.« Er deutete auf die Grube zu seinen Füßen.
    »Entschuldige, aber ich erinnere dich daran, dass nicht ich es war, der herumgetrickst hat.«
    »Ach, nein? Und wie nennst du es, gegen einen solchen Hünen anzutreten, weil du weißt, dass du keinen Schmerzensschrei von dir geben wirst, auch dann nicht, wenn man dich in der Mitte durchschneidet? Ich sag dir was:Verschwinde von hier, bevor ich aus dem Loch rauskomme und dir eine verpasse!«
    »Beim Erleuchteten! Was ist los mit dir? Gestern hast du mich angefleht, zu kämpfen. Ich bin gekommen, um deinen Vorschlag anzunehmen, verstehst du?«
    »Scheiß auf gestern! Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich besoffen war«, fauchte Xu.
    »Der Gründlichkeit nach zu urteilen, mit der du die Münzen gezählt hast, machte es nicht den Eindruck.«
    Die Schaufel in der Hand, stieg der Wahrsager aus dem Loch. »Du begreifst nicht, dass ich deinetwegen nicht mehr auf den Markt gehen kann. Du begreifst nicht, dass die Nachricht von deinem besonderen Vorteil schon die Runde gemacht hat und niemand mehr gegen dich antreten will. Du begreifst nicht, dass du verflucht bist und vom Unglück verfolgt. Und du begreifst nicht, dass ich dieses verdammte Grab zu Ende buddeln muss und die Nase voll habe von dir.«
    »Belästigt er dich, Xu?«, fragte ein wie aus dem Nichts aufgetauchter breitschultriger Kerl mit tätowierten Armen.
    »Nein. Er wollte gerade gehen«, antwortete der Wahrsager.
    »Dann werd endlich fertig, sonst kannst du dir heute Abend einen anderen Job suchen«, bellte der Aufseher und deutete

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