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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Beim letzten Aufflackern der Flamme spannte der Bursche mit dem Messer die Muskeln an.
    »Beeindruckend«, räumte der Erstgeborene ein. »Aber du hast immer noch nicht den Namen des Mörders genannt.« Er machte dem Narbengesicht ein Zeichen. »Den Namen!«, verlangte er.
    Auf der Suche nach einem Ausweg blickte Ci sich verzweifelt um. Es gab weder Fenster noch Gänge, nur nackten Fels. Zwei bewaffnete Männer bewachten die einzige Tür,dienach draußen führte, und Xu war gefangen. Jede Entscheidung zu ihrer Rettung musste er hier,in diesem Raum,fällen.
    Der Kerl mit der Narbe drückte das Messer gegen Xus Hals. Die ausdruckslosen Augen zeugten von seiner kalten Entschlossenheit. Ci begriff, dass der Bursche dem Wahrsager die Kehle durchschneiden würde, wenn er ihm keinen Namen nannte.
    Es vergingen einige Sekunden des Schweigens, in denen Ci nur seinen eigenen Atem hörte.
    Da hielt der Älteste es nicht mehr aus. Er gab dem Narbengesichtigen einen Befehl, und der hob den Arm, um das Messer in Xus Hals zu stoßen. Im selben Moment brüllte Ci seine Antwort heraus.
    »Der Große Lügner!«, improvisierte er.
    Verunsichert zögerte das Narbengesicht und suchte in den Augen des Erstgeborenen nach einer Bestätigung.
    »Das ist der Schuldige, den ihr sucht«, beharrte Ci und hoffte, sich auf dem von ihm selbst gewebten Spinnennetz halten zu können.
    In der entstandenen Pause blickte er Xu an. Er wartete, dass der Alte etwas sagte, dass er eine Geste machte, die ihm einen Weg wies, ein Zeichen, das ihm offenbarte, wie er sie aus dieser Situation retten könnte, doch Xu hielt die Lider fest geschlossen, als wären sie versiegelt.
    »Töte ihn«, befahl der Älteste.
    »Es war Chang! Chang hat ihn ermordet!«, schrie Xu plötzlich.
    Der Erstgeborene wurde blass.
    »Chang?« Seine Lippen bebten. Dann holte er mit zitternden Händen ein Messer aus seinen Kleidern hervor und ließ es im Lampenschein aufblitzen. Wortlos ging er langsam auf einen der Anwesenden zu, der entsetzt zurückwich, bis ihnmehrere Männer von hinten an den Armen packten. Der Zurückweichende war Chang, ebenjener, dessen Namen Xu vor einigen Augenblicken genannt hatte. Zuerst leugnete der Angeklagte das Verbrechen, doch als sie ihm die Fingernägel ausrissen, gestand er, schluchzte, dass er es nicht habe tun wollen, und flehte um Gnade.
    Seine Hinrichtung war qualvoll, doch Chang leistete keinen Widerstand. Geschickt durchtrennte der Älteste die Venen an seinem Hals, damit der Mörder spüren konnte, wie er starb. Als er mit einem letzten Zucken sein Leben ausgehaucht hatte, drehten die Männer sich in Cis Richtung und dankten ihm mit einer Verbeugung. Danach überreichte der Älteste dem Wahrsager einen Beutel mit Münzen.
    »Die zweite Hälfte deiner Bezahlung.« Er verneigte sich. Aufatmend erwiderte Xu den Gruß. »Und jetzt müssen wir, wenn ihr gestattet, unseren Toten die Ehre erweisen.«
    Xu wandte sich zum Gehen, aber Ci hielt ihn zurück.
    »Hört mich an!«, ermahnte er die Versammelten. »Durch meinen Mund haben die Götter gesprochen. Ihr Wille hat die Enthüllung des Mörders möglich gemacht. Und im Namen der Kraft, die sie mir verliehen haben, fordere ich euch auf, über alles, was ihr hier gesehen habt, Stillschweigen zu bewahren. Außer euch selbst darf keine Seele von diesem Geheimnis erfahren. Möge niemand seiner Zunge erlauben, dieses Wunder auszuplaudern, andernfalls schwöre ich, dass die Geister der Unterwelt euch und eure Familien bis zu dem Tag verfolgen werden, an dem ihr euch ins Grab legt.«
    Der Älteste presste stumm die Lippen aufeinander. Dann verneigte er sich abermals und zog sich mit seinem Gefolge zurück. Anschließend begleitete derselbe Mönch, der sie in die Höhle geführt hatte, Ci und Xu zum Ausgang.
    Die beiden machten sich auf den Rückweg in die Stadt. Während sie den Hügel der Großen Pagode auf seiner Ostseite hinabgingen,konnten sie dort,wo das Meer mit dem Horizont verschmolz, den ersten Lichtstreif des Tages erahnen. Sie gingen,ohne miteinander zu reden. Jeder dachte für sich über das Geschehene nach. Kurz bevor sie durch die schützende Mauer die Stadt betraten, blickte Xu Ci ins Gesicht.
    »Warum zum Henker hast du das zu ihnen gesagt?«, stieß er hervor. »Wir hatten das Geschäft unseres Lebens in der Hand, und du hast es verpfuscht. Was ist dir eingefallen, ihnen zu drohen? Diese Leute kennt jeder.Wenn du ihnen nicht deine blöde Standpauke gehalten hättest, hätte in ein paar Stunden

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