Der Totenleser
diese Idee nicht, erst als Ci erklärte, dass er auf diese Weise, sollte ihm einmal etwas zustoßen, jederzeit ersetzt werden und das Geschäft weitergehen konnte, stimmte Xu begeistert zu.
Im Allgemeinen teilten sie ihre Zeit zu gleichen Teilen zwischen der Arbeit auf dem Friedhof und den Besuchen im Großen Kloster der Buddhisten auf. Obwohl die Einäscherungen ihnen weniger Gewinn einbrachten als die Begräbnisse, waren sie doch ausgesprochen werbewirksam und sorgten dafür, dass die Zahl der interessierten Kunden beständig wuchs.
Wenn Ci abends auf das Boot zurückkam, weckte er Mei Mei, um sich zu überzeugen, dass es ihr gutging, und um sie zu fragen, ob sie ihre Pflichten beim Fischverkauf erfüllt habe. Zum Lohn schenkte er ihr kleine Holzfiguren, die er in den Pausen zwischen den Begräbnissen schnitzte. Danach verabreichte er ihr ihre Medizin, kontrollierte ihre Schreibübungen und ging mit ihr die Liste der tausend Wörter durch, die alle Kinder können mussten, um lesen zu lernen.
»Ich bin müde«, klagte sie manchmal.
Dann strich er ihr übers Haar und sagte: »Du willst doch nicht für immer Fischverkäuferin bleiben … Also, machen wir weiter!«
Später, wenn alle schliefen, trat er nach draußen in die unerbittliche Kälte der Nacht und ruinierte seine Augen, indem er unter dem Sternenhimmel, im schwachen Schein eines jämmerlichen Lämpchens, die Vorschriften des Liu Juan-Zi las, ein fesselndes Werk über die Kunst der Chirurgie, das er gebraucht auf dem Büchermarkt erworben hatte. Er las, bis ihn die Müdigkeit besiegte oder der Regen die Lampe löschte. Erst dann suchte er sich zwischen Xus Füßen und dem fauligen Fisch eine Lücke zum Schlafen.
* * *
Im Laufe der Monate lernte Ci die zufälligen Verletzungen von denen zu unterscheiden, die mit Tötungsabsicht entstanden waren, durch Axthiebe verursachte Wunden von denen, die auf Dolche, Küchenmesser, Buschmesser oder Schwerter zurückgingen, und einen durch Fremdeinwirkung herbeigeführten Tod von einem Selbstmord. Da die geschluckte Giftmenge bei einem Selbstmord stets geringer war als bei einem Mord, stellte er bald fest, dass ein und dasselbe Giftunterschiedliche Wirkungen hervorrufen konnte – abhängig davon, wer es verabreichte. Er entdeckte, dass die Vorgehensweise bei Morden aus Eifersucht oder Wut in der Regel plump und instinktiv war, dass sie jedoch an Raffinesse und Gemeinheit zunahm, wenn die Tat einem Wahn oder der Berechnung entsprang.
Jeder neue Fall stellte eine Herausforderung dar, bei der nicht nur seine Intelligenz gefragt war, sondern auch seine Vorstellungskraft. Er nahm jede Narbe, jede Wunde, jede Entzündung, Verhärtung oder Verfärbung in Augenschein, musste jedes Detail, wie unbedeutend es auch scheinen mochte, berücksichtigen und in das Gesamtbild einfügen. Manchmal konnte ein Haarbüschel oder eine winzige Eiterung den Schlüssel zur Lösung eines unerklärlichen Sachverhalts liefern.
Und Ci hasste es, wenn er diesen Schlüssel nicht fand.
Bei jeder neuen Leiche musste er sich das Übermaß seiner Unwissenheit eingestehen. Auch wenn den anderen seine Erkenntnisse wie Zauberei vorkamen, wurde ihm, je mehr er lernte, desto deutlicher, wie wenig er wusste. Oft verzweifelte er vor einem unbekannten Symptom, vor einem Leichnam, der nicht zu ihm sprechen wollte, vor einer Narbe, die sich nicht zuordnen ließ, oder angesichts einer falschen Schlussfolgerung. Wenn das geschah, dachte er mit noch größerer Bewunderung an seinen ehemaligen Lehrmeister, den Richter Feng, jenen Mann, der ihm die Liebe zum methodischen und akribischen Arbeiten eingepflanzt hatte. Und so wie damals, entdeckte Ci jetzt eine neue Welt voller Wissen, das Xu mit ihm teilte.
Denn Xu kannte sich ebenfalls mit Toten aus.
»Den müssen wir nicht erst aufschneiden. Guck dir seinen Bauch an. Der ist innerlich zerplatzt«, sagte er einmal.
Tatsächlich beherrschte Xu die Untersuchung von Leichen ebenso gut, wie er die Mimik der Lebenden deuten konnte. Er verstand es, einen Körper von allen Seiten zu betrachten, Knochenbrüche zu finden, die Folgen von Schlägen zu erahnen, Hämatome zu erkennen, Ursachen zu benennen, die Herkunft und selbst den Beruf der Toten, die durch seine Hände gingen, zu bestimmen, als würde er einen Lebenden befragen. Seit Jahren beschäftigte er sich auf dem Friedhof mit Leichen, half bei den Einäscherungen der buddhistischen Verstorbenen und hatte, seinen Erzählungen zufolge, sogar in den Gefängnissen von
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