Der Totenleser
Verfügung. Hast du das kapiert? Es macht mir nichts aus, zu arbeiten, Gräber auszuheben, Patienten abzuhorchen, Lebende oder Tote zu untersuchen … Aber ich sage dir: Verlange nie wieder von mir, jemanden ohne Beweise anzuklagen … Denn dann werde ich dich anklagen.«
Schweigend gingen sie weiter. Xu warf Ci giftige Blicke zu, die dieser gar nicht bemerkte. Mit gesenkter Stirn grübelte er über sein Dilemma nach – ein Dilemma, das ihn innerlich auffraß und für das er keine Lösung hatte.
Wenn er den Wahrsager vergaß und einfach verschwand, konnte er vielleicht fern von Lin’an ein neues Leben beginnen. Er musste bloß das Geld nehmen, das Xu ihm angeboten hatte, Mei Mei wecken und aus dieser gefährlichen Stadt fliehen. Aber die Flucht bedeutete auch, auf alles zu verzichten, wovon er geträumt hatte: die Universität, die Kaiserlichen Prüfungen, die ihm, wenn er sie bestand, die Ehre und die Achtung zurückgeben würden, für die er so hart gekämpft und die das Vergehen seines Vaters ihm vorerst genommen hatte.
In Lin’an zu bleiben hieß, der Willkür des Wahrsagers auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, seinen verrückten Ideen und ihren schrecklichen Folgen. Und mit dem Tod rechnen zu müssen, sobald Kao ihn entdeckte.
Ci trat nach einem Stein. Nie hätte er nötiger einen unbescholtenen Vater gebraucht, der ihm beistand, einen aufrechten, tugendhaften Ahnen, mit dem er seine Ängste und Sorgen teilen konnte. Er sah zum Horizont. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Stadt. So etwas sollte seinen eigenen Kindern nicht passieren, schwor er sich.Wenn er welche haben sollte, würde er alles dafür tun, damit sie stolz auf ihn wären.
Als sie vor Xus schwimmender Wohnung standen, hatte Ci noch keine Lösung gefunden. Schließlich erleichterte Xu ihm die Entscheidungsfindung, indem er Ci den Zutritt zu seinem Boot versperrte.
»Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du arbeitest weiter wie bisher, oder du haust ab. So einfach ist das«, sagte er.
Ci sah ihn an. Ihm wurde plötzlich klar, dass sich Xu täuschte, er hatte keine zwei Möglichkeiten, sondern nur die eine: Er musste seine Schwester am Leben erhalten. Also biss er die Zähne zusammen und schob den Wahrsager beiseite.
17
Die folgenden Wochen waren für Ci nicht leicht.
Jede Nacht stand er geräuschlos auf und begab sich zur Kaiserlichen Warenbörse, um den Fisch abzuholen, den Xus Frau täglich frisch kaufte. Zurück auf dem Boot, half er beim Sortieren und Putzen und leistete so einen Teil der Arbeit, die eigentlich Mei Mei erledigen musste, ob sie nun krank war oder nicht. Danach begleitete er Xu bei seiner morgendlichen Runde über Märkte und Kaianlagen, auf der sie in Erfahrung zu bringen suchten, wie viele Tote es am Vortag durch Unfälle und gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben hatte. Gewöhnlich schloss ihre Runde auch Besuche in Krankenhäusern und Arztpraxen ein, wo Xu gegen ein bescheidenes Handgeld von den Pflegern Auskünfte über Namen und die persönliche Situation jener Kranken erhielt, denen es besonders schlecht ging, Auskünfte über die Krankheiten, an denen sie litten, und die Methoden, mit denen sie behandelt wurden, eine Befragung, die er auch in der Großen Apotheke von Lin’an durchführte. Mit dieser Liste planteXu ihr Vorgehen, indem er unter den am besten geeigneten Fällen die gewinnträchtigsten auswählte.
Auf dem Weg zu den Feldern des Todes glich Ci die Informationen miteinander ab und wertete sie aus. Er überprüfte die Vorgeschichten und berücksichtigte auch die Angaben der vergangenen Tage, um sicher zu sein, dass ihre Erkundigungen bis ins Detail stimmten. Sobald sie auf dem Friedhof waren, ordnete er das Instrumentarium, das er später bei den Untersuchungen verwenden würde und das er mit einem Teil seines Verdienstes Stück um Stück erweiterte. Dann half er Xu beim Ausheben von Gräbern, beförderte Erde von einem Ende zum anderen, brachte Steintafeln an oder betätigte sich als Sargträger, wenn die Angehörigen sich außerstande dazu sahen. Nach dem Essen bereiteten sie sich auf ihren Auftritt vor, wozu gehörte, dass Ci sich wusch und eine Art Zauberergewand anlegte, das Xus erste Frau für ihn genäht und das er um eine Maske zum Verhüllen seines Gesichts ergänzt hatte.
»So machen wir die Sache geheimnisvoller«, hatte Ci dem Wahrsager suggeriert, statt ihm zu sagen, dass er auf der Flucht war und deshalb lieber unerkannt bleiben wollte.
Zunächst gefiel dem Alten
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