Der Totenleser
und Sandelholz. Nichts Ungewöhnliches. Er musste ihn nicht berühren. DieAngehörigen wollten bloß eine Bestätigung und die würde er ihnen geben. Er vergewisserte sich, dass seine Hände nicht zu sehen waren, und tat, als untersuchte er das Gesicht, den Hals, die Ohren, indem er mit den Ärmeln darüberfuhr.
»Dieser Mann ist an einem Schlaganfall gestorben«, verkündete er.
Die Angehörigen verneigten sich dankbar,und Ci erwiderte die Verbeugung. Es war eine leichte Aufgabe gewesen. Doch als er sich bereits zurückzog, ertönte hinter ihm eine Stimme:
»Haltet ihn!«
Bevor er es verhindern konnte, hatten ihn zwei Männer gepackt, und ein Dritter fing an, ihn zu durchsuchen.
»Was ist los?« Ci bäumte sich auf.
»Wo ist sie? Wo hast du sie hingetan?«, schrie einer der Angehörigen.
»Ich habe gesehen, wie er sie im Ärmel verschwinden ließ«, beschuldigte ihn ein anderer.
Auf der Suche nach einer Erklärung blickte Ci den Wahrsager an, doch Xu hielt sich abseits. Drohend verlangten seine Ankläger von ihm, die gestohlene Perlenbrosche auf der Stelle zurückzugeben. Ci wusste nicht, was er sagen sollte. Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Nicht einmal nachdem sie ihn entkleidet hatten, beruhigten sie sich, sondern warfen ihm seine Sachen ins Gesicht und beschimpften ihn aufs Neue.
»Du Scheusal! Sag uns, wo die Brosche ist, oder du hast heute zum letzten Mal den Tag anbrechen sehen.«
Ci versuchte nachzudenken. Eines der Familienmitglieder hatte einen Jungen in die Stadt geschickt, um den Diebstahl anzuzeigen, aber die übrigen Anwesenden schienen nicht geneigt, auf seine Rückkehr zu warten. Die beiden Männer, dieCi festhielten, verdrehten ihm die Arme, zu ihrer Verwunderung zeigte er jedoch keine Reaktion.
»Ich beteuere, dass ich nichts gestohlen habe. Ich habe ihn doch nicht mal berührt«, verteidigte sich Ci.
Ein Fausthieb in den Magen ließ ihn sich zusammenkrümmen. Ihm blieb die Luft weg.
Diese Leute würden ihn umbringen, ohne Zweifel. Ci dachte an Mei Mei und brüllte hilflos, dass er nichts gestohlen habe. Dass es ein Irrtum sein müsse. Er wiederholte es bis zur Erschöpfung, aber sie glaubten ihm nicht. Da näherte sich ein Mann mit einem Strick in der Hand. Ci verstummte.
Er spürte, wie sich eine Schlinge um seinen Hals legte. Der Mann war im Begriff, ihn zu erwürgen, als eine gebieterische Stimme den Raum erschütterte: »Halt! Lass ihn los!«
Und plötzlich senkten dieselben, die ihn eben noch umbringen wollten, vor ihm die Köpfe. Zitternd hielt das Familienoberhaupt die vermisste Brosche in die Höhe.
»Es tut mir so leid. Mein Sohn hat sie auf dem Boden des Sargs gefunden. Sie muss beim Transport abgefallen sein.« Der Patriarch verneigte sich schuldbewusst.
Wortlos klopfte Ci den Staub von seiner Kleidung und verließ den Ort des Geschehens.
Am Abend dachte er auf dem Deck der Barkasse bis spät in die Nacht über sein Schicksal nach.Vielleicht hatte seine Unempfindlichkeit gegenüber körperlichen Schmerzen zur Folge, dass seine Seele stärker litt, doch zu einem guten Teil gab er sich auch selbst die Schuld an dem, was passiert war.Wenn er, statt sich um das Verbergen der Verbrennungen an seinen Händen zu kümmern, die Leiche sorgfältig und gewissenhaft untersucht hätte, wäre wahrscheinlich niemandem ein solcher Verdacht in den Sinn gekommen. Auch Xu durfteer keine Vorwürfe machen – er hatte sich nur deshalb abseits gehalten, weil er nicht begriff, was vor sich ging.
Die Lehre, die Ci aus dem Geschehenen zog, war, dass er eine Untersuchung niemals auf die leichte Schulter nehmen durfte, und wenn das Ergebnis noch so offenkundig schien. Der kleinste Fehler, die geringste Unachtsamkeit konnten ihn in Lebensgefahr oder wenigstens in ernste Schwierigkeiten bringen.
Er lehnte sich zurück und betrachtete die Sterne. Es war kein guter Tag gewesen. Bald fing das neue Jahr an, und er würde einundzwanzig Jahre alt werden. Ein böses Omen für den Neubeginn.
Zwei Tage darauf, er war gerade dabei, mit Xu im Ewigen Mausoleum einen Sarg zu polieren, hörte er plötzlich seltsame Geräusche von draußen. Anfangs dachte er, es sei der Junge, der trällernd die Grünflächen harkte, aber immer deutlicher ließ sich das Geräusch als das Gebell eines Hundes identifizieren. Ci sträubten sich die Haare, normalerweise durften Hunde den Friedhof nicht betreten. Er lief zur Tür und spähte durch einen Spalt hinaus. Was er
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