Der Totenleser
Tag zu Tag verschlechtere. Sie trugen es Xu vor, und der gab es an Ci weiter.
»Vielleicht sollten wir sie verkaufen«, meinte der Wahrsager. Als Ci seinen Vorschlag empört ablehnte, beharrte er, das sei die übliche Lösung bei armen Familien.
»Dann verheiraten wir sie eben«, mischte sich die ältere Ehefrau ein.
Begeistert griff der Wahrsager die Idee auf, die Ci unmöglich zurückweisen könne. Es ginge bloß noch darum, einen Kandidaten zu finden, der die Jugend der Kleinen zu schätzen wüsste und sich ihrer annähme. Letztlich stelle ein Mädchen immer eine Belastung dar, das ändere sich erst, wenn es das Haus verlasse.
»Das haben wir mit unseren Töchtern auch so gemacht«, erläuterte Xu. »Sie ist acht, hast du gesagt, oder?« Er machte Anstalten sie zu sich heranzuziehen. »Wart’s ab. Wir schminken sie ein bisschen, damit sie nicht so krank aussieht. Ich kenne ein paar Leute, denen dieses Küken gefallen wird.«
Ci trat dazwischen. Obwohl es üblich war, Kinder zur Hochzeit anzubieten, und es sich mitunter als die beste Entscheidung für die Zukunft der Mädchen erwies, würde er nicht zulassen, dass seine Schwester als Sklavin und Lustobjekt irgendeines Greises endete. Xu gab nicht auf. Mädchenseien wie Heuschrecken, sagte er, sie täten nichts anderes als essen und Kosten verursachen. Bis zu ihrer Heirat. Erst dann erfüllten sie eine sinnvolle Aufgabe, nämlich die, sich um ihren Mann und seine Familie zu kümmern.
»Und uns vergessen sie«, fügte er hinzu. »Es ist ein Unglück, wenn man keine Söhne hat. Die schaffen sich wenigstens Frauen an, die uns im Alter betreuen.«
Wie immer gelang es Ci, die Diskussion zu vertagen, indem er Xu Geld zuschob.
Aber im Laufe der Wochen schmolzen seine Ersparnisse dahin.
Jeden Tag benötigte Mei Mei mehr Medikamente. Xu brachte sie von seiner Runde durch die Apotheken mit, Ci bezahlte einen überhöhten Preis, verabreichte sie seiner Schwester und sah sie trotzdem schwächer werden. Langsam verlosch sie, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Es brach ihm das Herz, morgens zum Friedhof zu gehen und sie elend und kraftlos auf dem Boot zurückzulassen, zu erleben, wie sie mit ihren vor Kälte geröteten Händen die neue Fischlieferung putzte und sich mit dünner Stimme und einem angedeuteten Lächeln von ihm verabschiedete.
»Ich bringe dir ein Bonbon mit«, sagte er, schluckte sein Mitleid herunter und betete still für ihre Genesung.
Das wenige gesparte Geld rann ihm aus den Händen wie Wasser aus einem Stoffbeutel.
Inzwischen hatte Xu beschlossen, seine Arbeit als Totengräber gegen Cis Posten als Leichendeuter einzutauschen, doch seine falschen Auskünfte hatten die ohnehin nicht sehr zahlreichen Interessenten verschreckt, wodurch ihre Einnahmen ins Bodenlose gesunken waren.
Zumindest behauptete das Xu, als Ci ihn um einen Vorschuss bat.
»Glaubst du, ich bekomme etwas geschenkt? Es ist genug Zeit vergangen.Wenn du Geld brauchst, musst du es dir wieder verdienen.« Und er zeigte auf das Hellsehergewand, das auf einem zerbrochenen Sarg lag.
Ci klopfte sich den Dreck von den schwieligen Händen und musterte seufzend die Verkleidung, von der seine Zukunft abhing. Er fürchtete die Rückkehr des Fahnders, doch wenn er seine Schwester retten wollte, musste er die Gefahr auf sich nehmen.
Noch am selben Nachmittag streifte er sich das Gewand über, als eine Gruppe Studenten unter der Leitung ihres Professors in prozessionsartiger Ordnung den Hügel zum Mausoleum heraufmarschierte. Wie Xu ihm erzählte, besuchten die Schüler der berühmten Ming-Akademie manchmal den Friedhof und durften – gegen einen bescheidenen Betrag, der den Diensthabenden der Felder des Todes ein Auge zudrücken ließ – die Leichen untersuchen, nach denen sich in den vorangegangenen Tagen niemand erkundigt hatte. An diesem Tag warteten noch drei vernachlässigte Tote auf ihr Begräbnis, und Xu jubelte, als hätte man ihn überraschend zu einem Bankett eingeladen.
»Mach dich bereit«, forderte der Wahrsager ihn auf. »Diese jungen Leute sind mit dem Trinkgeld großzügig, wenn du die richtigen Worte findest.«
Ci nickte, versuchte sich zu konzentrieren und wartete, dass Xu ihm das Zeichen für seinen Auftritt gab.
Aus einer Ecke beobachtete er, wie der Professor, ein in rote Gewänder gekleideter kahlköpfiger Mann, der ihm bekannt vorkam, seine Schüler um den ersten der drei Toten herum anordnete. Bevor er mit seinen Belehrungen begann, erinnerte der Meister die
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