Der Totenleser
Sichuan, wo Folter und gewaltsamer Tod an der Tagesordnung waren, als Totengräber gearbeitet. Eine Erfahrung, die Ci nicht besaß.
»Dort gab es vielleicht Hinrichtungen, sage ich dir! Echte Morde und nicht solchen Kinderkram«, prahlte er vor Ci. »Wenn ihre Familien den Insassen kein Essen ins Gefängnis brachten, schickte ihnen die Regierung auch nichts. Du musst dir also vorstellen, dass da ein Rudel hungriger Wölfe aufeinanderhockte.«
Bei diesen Worten dachte Ci betrübt an seinen Bruder Lu und den fürchterlichen Tod, den er erlitten hatte. Er wollte daran glauben, dass die Gefängnisse von Sichuan kein viel besseres Schicksal für ihn bereitgehalten hätten.
Xus Erfahrungen waren ein unerschöpflicher Wissensquell, aus dem Ci trank, ohne seinen Durst jemals stillen zu können, ein Sturzbach, von dem er sich begierig durchweichen ließ, immer in Erwartung des Tages, an dem er sich bei den Kaiserlichen Prüfungen vorstellen würde. Denn dieser Gedanke verließ ihn nicht.
Doch all das reichte ihm nicht aus, und deshalb widmete er jede Minute, in der er nicht arbeitete und nicht vor Erschöpfung einschlief, dem Selbststudium.
Als der Winter kam, schlug er dem Wahrsager vor, zur Erweiterung seiner Bildung neue Bücher anzuschaffen. Xu war einverstanden.
»Die musst du aber von deinem eigenen Geld bezahlen.«
Das störte Ci nicht weiter. Zum Glück brachte das Geschäft genug ein, um Mei Mei zu ernähren und regelmäßig ihre immer teurer werdende Medizin zu kaufen. Der Rest war in Büchern gut angelegt, wenn Xu ihm nur etwas Zeit zum Lernen ließ.
Mit dem Frühling wurde Ci souveräner. Sein Blick hatte sich geschärft, so dass er auf Anhieb die violette Farbe einer Prellung vom purpurfarbenen Hämatom durch einen festen Schlag unterscheiden konnte. Sein Geruchssinn hatte gelernt, den strengen Geruch der Verwesung vom süßlicheren des Wundbrandes zu trennen. Seine Finger erspürten die harten Stellen unter dem Gewebe, die kleinen Wunden, die ein um den Hals geschlungenes Seil verursachte, die Schlaffheit des Alters, die Verbrennungen, die bei der Moxa-Therapie, der Behandlung mit glimmendem Beifuß, entstanden, und sogar die unscheinbaren Narben, die Akupunkturnadeln hinterließen.
Von Tag zu Tag fühlte er sich sicherer, vertraute er seinen Fähigkeiten mehr.
Und das war sein Fehler.
An einem regnerischen Apriltag kam ein großes Gefolge vornehm gekleideter Standespersonen, einen Sarg auf den Schultern, den Friedhofshügel herauf. Zwei Diener eilten dem Trauerzug voraus und suchten nach Xu, damit er die Familienmitglieder über die Todesursache aufklärte. Wie es aussah, war der Tote, ein hoher Beamter des Kriegsministeriums, in der vergangenen Nacht nach einer langen Krankheit, über die er nur das Nötigste mitgeteilt hatte, verstorben,und die Angehörigen wollten wissen, ob sein Tod vermeidbar gewesen wäre.
Als sie sich über den Preis geeinigt hatten, ging der Wahrsager Ci holen. Er fand ihn dort, wo er ihn verlassen hatte, im Schlammloch eines Grabes, dessen Seitenwände bei der Verbreiterung eingestürzt waren. Ci bat darum, sich rasch herrichten zu dürfen, doch Xu drängte ihn, die Verkleidung anzulegen und sich um diese Leute zu kümmern. Ci folgte widerstrebend, dann aber bemerkte er, dass die Handschuhe, die Xus Frau für ihn angefertigt hatte, um die Verbrennungen an seinen Händen zu verbergen, völlig verdreckt waren. Er durfte nicht riskieren, an seinen Verbrennungen erkannt zu werden und bestand darauf, das zweite Paar, das er auf dem Boot vergessen hatte, zu holen.
»Du weißt, ich kann nicht ohne Handschuhe arbeiten«, erwiderte er, als Xu protestierte.
»Verdammt noch mal, Ci! Dann versteck sie irgendwo oder besser noch: Steck sie dir in den Hintern. Du könntest es sogar mit auf den Rücken gebundenen Händen tun.«
Er hätte sich weigern sollen, aber schließlich willigte Ci ein – im vollen Vertrauen auf sein Glück. Im Grunde, dachte er, ist es nur ein weiterer Fall eines an irgendeiner Krankheit verstorbenen Alten. Er legte im Pavillon das Kostüm an und ging hinaus, den Trauerzug zu empfangen, wobei er seine Hände in den Ärmeln zu verbergen suchte. Kaum hatte er das Gesicht des Toten gesehen, vermutete er, dass es sich um einen einfachen Schlaganfall handelte.
Er verneigte sich vor dem Gefolge und trat dann an den Sarg. Am Hals des Verstorbenen entdeckte er eine leichte Schwellung. Das Gesicht des Toten wirkte freundlich, und seine Festkleider rochen nach Weihrauch
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