Der Totenleser
Studenten an ihre Verantwortung als künftige Richter. Sie sollten sich den Toten gegenüber respektvollverhalten und ihr Urteil mit der größten Ehrenhaftigkeit äußern. Dann zog er das Tuch beiseite, das den Leichnam bedeckte. Es handelte sich um ein nur wenige Monate altes Mädchen, das eines Morgens in den Kanälen von Lin’an gefunden worden war. Der Professor stellte den Studenten eine Reihe von Fragen, um die Todesursache einzugrenzen.
»Das Mädchen ist zweifellos ertrunken«, begann der erste, ein bartloser junger Mann mit kindlichem Gesicht. »Der Bauch ist aufgedunsen, und man sieht keine weiteren Spuren äußerlicher Einwirkung.«
Der Professor nickte und forderte den nächsten Schüler zum Sprechen auf.
»Ein typischer Fall von Kindstötung. Die Eltern haben das Kind ins Wasser geworfen, um es nicht ernähren zu müssen«, meinte der zweite.
»Vielleicht konnten sie es nicht ernähren«, gab der Meister zu bedenken. »Weitere Kommentare?«
Ein Student mit grauen Haaren, der größer war als die anderen, gähnte nachlässig. Der Professor warf ihm einen verstohlenen Blick zu, sagte aber nichts. Er deckte das Baby wieder zu und bat Xu, die nächste Leiche zu holen, was der Totengräber nutzte, um Ci als den großen Wahrsager des Friedhofs vorzustellen. Bei seinem Anblick zogen die Studenten verächtliche Mienen.
»Auf Betrügereien können wir verzichten«, fauchte der Meister. »Wir glauben nicht an Hellseher.«
Verunsichert schwieg Ci und kehrte an Xus Seite zurück, der ihn ermahnte, die Maske abzunehmen und aufmerksam zuzuhören. Die Studenten fuhren mit ihrer Beschau fort.Vor ihnen lag der weißliche Leichnam eines alten Mannes, den man hinter den Lagerschuppen des Großen Marktes gefunden hatte.
»Es handelt sich um einen Tod aus Entkräftung«, meinte ein vierter Student, während er das armselige, nur aus Haut und Knochen bestehende Gerippe untersuchte. »Fußgelenke und Füße sind geschwollen. Etwa siebzig Jahre alt. Also ein natürlicher Tod.«
Wieder bestätigte der Professor die Schlussfolgerung, und alle freuten sich. Ci beobachtete, wie der grauhaarige Student sarkastisch beipflichtete, als entdeckten seine Kommilitonen gerade, dass der Regen vom Himmel nach unten fällt. Der Lehrer richtete zwei, drei weitere Fragen an die Schüler, die sich am wenigsten beteiligt hatten. Auf sein kurzes Händeklatschen hin gab man Xu Bescheid, dass er die letzte Leiche aufbahren solle. Ci half ihm, den Sarg, eine große Kiste aus Kiefernholz, zu tragen. Als sie den Deckel abhoben und die Leiche auf den Tisch legten, wichen die Schüler in der ersten Reihe entsetzt zurück. Erst jetzt drängte sich der grauhaarige Student nach vorn, um den Leichnam zu betrachten. Sein gelangweiltes Gesicht nahm einen äußerst befriedigten Ausdruck an.
»Es sieht aus, als hättest du Gelegenheit, dein Talent unter Beweis zu stellen«, sagte der Meister zu ihm.
Statt einer Antwort verneigte der Student sich mit einem ironischen Lächeln vor seinem Lehrer. Nun, da er die Erlaubnis hatte, trat er langsam an den Toten heran, als stünde er vor einem Schatz. Seine Augen blitzten vor Gier, blinzelten genüsslich angesichts des Schauspiels, das dieser von Messerstichen durchlöcherte Körper bot. Dann nahm er einen Bogen Papier, einen Tintenstein und einen Pinsel zur Hand.
Im Gegensatz zu seinen Kommilitonen schien er einer ähnlichen Methode zu folgen wie der, die Richter Feng bei seinen Fällen anwendete.
Zunächst begutachtete er die Kleidung des Toten, blicktein seine Ärmel, in das Innere seiner Hemdjacke, in die Hosen und in die Schuhe. Dann, nachdem er den Körper vollständig entkleidet und abgetastet hatte, ließ er Ci einen Eimer Wasser herbeischaffen. Damit reinigte er sorgfältig den blutverschmierten Körper, bis die Haut rosafarben leuchtete. Anschließend maß er die Länge des Körpers und machte zum ersten Mal den Mund auf, um zu verkünden, dass die Größe des Toten die eines durchschnittlichen Mannes um zwei Köpfe übertreffe.
Eingehend studierte er das geschwollene Gesicht des Leichnams, in dem eine Stirnwunde klaffte. Statt sie zu waschen, entnahm der Student eine Probe der darin befindlichen Erde und erklärte, es handle sich um einen Rückstand vom Sturz gegen einen scharfkantigen Pflasterstein. Er notierte etwas mit seinem Pinsel und wandte sich dann den halbgeöffneten, glanzlosen Augen des Leichnams zu, die er mit denen eines getrockneten Fisches verglich. Des Weiteren hob er die
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