Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
mochte Miami nicht mehr. Nach dem kranken urbanen Albtraum namens New York hatte sie Miami für eine lebenswerte Stadt gehalten, aber inzwischen war sie schlimmer geworden als New York, nur dass das Wetter besser und die Akzente anders waren.
Zuerst nahm sie die Leiche von außen in Augenschein und gab zu Protokoll, dass sie komplett haarlos war. Mister Namenlos hatte sich kurz vor seinem Tod einer vollständigen Körperrasur unterzogen. Sogar die Wimpern waren geschnitten worden.
»Aber wachsen Haare und Nägel nach dem Tod nicht noch weiter?«, meldete sich hinter ihr eine junge und unbekannte Stimme zu Wort. Es war der Diener des heutigen Tages, Ralph. Sie hatten sich vor fünf Minuten kennengelernt, weshalb sie nicht wusste, wie er aussah, weil sie wegen des grünen Overalls und der Gesichtsmaske nur seine Augen – blau und intelligent – sehen konnte.
»Nur im Film«, sagte Gemma mit einem müden Seufzer. Sie war heilfroh, dass sie nie ins Lehrfach gegangen war. Sie hatte wenig Lust, verlorene Schlachten zu schlagen. Wer wollte schon gegen Hollywoodmythen ankämpfen? »Die Haut um die Haare und die Fingernägel verliert nach dem Tod Wasser und schrumpft zusammen. Und wenn sie zusammenschrumpft, zieht sie sich zurück, weshalb die Nägel und die Haare länger aussehen, als wären sie gewachsen. Aber das ist nicht wirklich der Fall. Es ist eine Illusion. Genau wie der Film. Okay?«
Er nickte. An seinen Augen sah sie, dass er verstanden hatte.
Als Nächstes betrachtete sie die sechzehn Einstichlöcher ober- und unterhalb der Lippen, acht oben und acht unten, dazu mehrere tiefe Einkerbungen auf den Lippen selbst, die sich teilweise in die Haut eingeschnitten hatten. Dem Mann war der Mund zugenäht worden.
Sie begutachtete die Nase und sah die Einstichlöcher auf beiden Seiten, je eines genau in der Mitte, mit einer winzigen Blutkruste. An der Unterseite der Nasenflügel ein kurzer, horizontaler Schnitt, genauso breit wie die Einkerbungen auf den Lippen. Auch die Nase war zugenäht worden. Die Löcher mussten von einer dicken, langen Nadel stammen, vermutete sie, deren Öhr groß genug war für einen Faden von der Dicke einer Gitarren- oder Geigensaite, womit, wie sie glaubte, Mund und Nase zugenäht worden waren. Sie hatte das schon mehrmals gesehen, aber an die Einzelheiten konnte sie sich nicht erinnern. Einmal hier, einmal in New York, es hatte irgendwas mit Schwarzer Magie zu tun gehabt. Sie nahm sich vor, in den Datenbanken danach zu suchen, wenn sie Zeit hatte – und das war ein großes Wenn.
»Gucken wir in den Kopf rein?«, fragte Javier. Diese Aufgabe überließ sie meistens ihm.
»Schauen wir erst mal, was die Eingeweide uns sagen.«
Gerade erklang »The Look of Love«, als sie den T-Schnitt von den Schultern zur Mittellinie des Brustkorbs und hinab zum Schambein machte. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt gingen für gewöhnlich die ersten Diener zu Boden.
Sie klappte die Bauchdecke auf und betrachtete die Eingeweide. Ein vorhersagbarer Anblick. Ungefähr so mochte eine Metzgerei aussehen, die von den Inhabern zwei Wochen zuvor unerwartet geschlossen und mit komplettem Inhalt zurückgelassen worden war. Die Organe hatten nicht nur die Farbe verändert – Rot und Kastanienbraun waren zu verschiedenen Schattierungen von Graublau geworden -, sie hatten auch ihre Form verloren, waren viskos geworden, und manche hatten sich von ihrem angestammten Platz verabschiedet und waren gewandert, weil hungrige Insekten die Kabelage zerfressen hatten. Überraschenderweise waren Ralph und Martin noch immer zugegen. Ralph sah sogar aus, als hätte er seinen Spaß.
Gemma nahm eine große Spritze und zog Blut und Gewebeflüssigkeit aus dem Herzen, der Lunge, der Blase und der Bauchspeicheldrüse. Dann punktierte sie den Magen und zog eine Probe seines Inhalts in die Spritze – eine grüne Flüssigkeit von der Farbe von Spinatwasser -, doch dann wurde etwas Festes angesaugt und blockierte die Nadel.
Nachdem sie alle Organe einzeln entnommen und gewogen hatten, schnitt Gemma den Magen auf und leerte den Inhalt in einen Glasbehälter: noch mehr grüne Flüssigkeit, die zuerst trübe war, dann immer klarer wurde, als sich ein körniges weißes Sediment von der Konsistenz von Sand auf dem Boden des Gefäßes absetzte, gefolgt von glänzenden dunklen Stücken, die vielleicht aus Plastik waren.
Der Magen war noch nicht ganz leer, da war noch etwas, das nicht herausgekommen war. Sie schnitt ihn etwas weiter auf und
Weitere Kostenlose Bücher