Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
entdeckte eine klebrige, gräuliche Kugel aus einer undefinierbaren Substanz, die an der Magenwand klebte. Gemma musste an einen geschrumpften Golfball denken. Als sie die Kugel ins Licht hielt, sah sie, dass es sich nicht um eine homogene Masse handelte, sondern um mehrere kleine Quadrate, die zu einer Kugel zusammengeknüllt waren.
Mit einer Pinzette zog sie daran, bis sie eines der Quadrate herausgelöst hatte. Es war aus Papier und hatte vielleicht acht oder neun Millimeter Kantenlänge, auf beiden Seiten bedruckt und trotz der Verdauungsprozesse auf wundersame Weise nahezu heil geblieben. Auf der einen Seite schwarz, auf der anderen bunt – verschiedene Rot-, Gelb-, Orange- und Blautöne -, aber was sie darstellten, war nicht zu erkennen.
Sie zupfte die Kugel auseinander, legte die einzelnen Quadrate am Fußende des Metalltischs aus und sah sich einem Puzzle gegenüber.
Die nächste Stunde verbrachte sie damit, es zusammenzusetzen. Schon nach fünfzehn Minuten wurde ihr klar, womit sie es zu tun hatte.
Das Bild war ihr vertraut, nur dass die Ausführung in vielerlei Hinsicht anders war, als sie es kannte. Sehr viel ausgefeilter und detaillierter, die Farben satter und lebendiger – soweit sie sehen konnte, denn vollständig war es nicht. Mindestens ein Viertel fehlte. Sie ahnte, wo es zu finden war.
»Javier, schneid die Kehle auf«, sagte sie.
Der Mann war an den letzten Pappquadraten erstickt.
Als Javier ihr die neun fehlenden Stücke reichte, konnte sie das Puzzle vervollständigen.
Es war eine Tarotkarte. Sie zeigte einen Mann, der eine goldene Krone auf dem Kopf trug und auf einem Thron saß. Die Krone sah aus wie ein Burgtürmchen und war mit leuchtend roten Rubinen besetzt. In der linken Hand hielt er ein blutbeflecktes goldenes Schwert, dessen Klinge er in den Boden gerammt hatte; um die rechte Hand war eine dicke Kette gewickelt, an der ein schwarzer Mastiff lag. Der Hund hatte sich zur Rechten seines Herrn ausgestreckt, den Kopf erhoben, die Zähne halb gefletscht, die Pfoten vorgeschoben. Er hatte knallrote Augen und eine gespaltene Zunge, die zu dem böswilligen, übellaunigen Ausdruck auf seinem Gesicht passte, eine Wut, die kurz vor dem Ausbruch gezügelt worden war. Obwohl die Karte im Magen eines Toten gesteckt hatte und nun in Stücken dalag, wirkte sie überaus lebendig. Gemma starrte sie an, sie war gefangen von ihrer schrecklichen Schönheit, unfähig, sich loszureißen. Eine Tarotkarte wie diese hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Mann auf dem Thron hatte kein Gesicht. Da war nur der weiße, leere Umriss seines Kopfes. Fast hätte man das, in Anbetracht der reichen Details, für einen Druckfehler halten können, aber je länger sie die Karte studierte, umso mehr spürte sie, dass das beabsichtigt war.
»Kennst du dich aus mit Tarot?«, fragte Javier hinter ihr.
»Was?« Sie drehte sich um, dann lachte sie. »Nein. Ich glaube nicht an so etwas.«
»Der König der Schwerter«, erklärte Javier und betrachtete die Karte. »Steht für einen sehr mächtigen und einflussreichen Mann, einen aggressiven Mann. Das kann ein wertvoller Verbündeter oder ein furchteinflößender Feind sein, je nachdem, wo und wie die Karte bei einer Lesung auftaucht.«
»Ach ja?«, sagte Gemma. »Und was bedeutet es, wenn sie im Magen eines Toten auftaucht?«
4
»Preval Lacour«, las Max aus dem fotokopierten Bericht vor, während Joe am Steuer saß. »Vierundvierzig Jahre alt. Haitianer. Seit 1976 US-Bürger. Steuerzahler, Parteimitglied bei den Republikanern, Kirchgänger, verheiratet, vier Kinder. Kreditwürdig, Hauseigentümer, bescheidener Kredit bei American Express. Seit kurzem – zusammen mit seinem Geschäftspartner Guy Martin – stolzer Eigentümer mehrerer Immobilien in Lemon City. Der Plan war, da neue Wohnungen zu bauen. Keine Anzeigen, keine Vorstrafen, kein gar nichts. Ich begreif’s nicht.« Er sah zu Joe hinüber. »Dieser Mann war auf dem besten Wege, sich sein Stück des amerikanischen Traums zu sichern. Keine Vorfälle irgendwelcher psychischen Erkrankungen oder Gewalttaten. Keine Drogen und kein Alkohol im Blut. Wie und warum konnte das alles so dermaßen aus dem Ruder laufen?«
»Die Leute drehen durch«, sagte Joe. »Irgendwann setzt irgendetwas einfach aus. Du kennst das doch. Wir kriegen das jeden Tag zu sehen.«
»Aussetzen klingt mir reichlich milde für diesen Typen.« Max zitierte weiter aus dem Bericht. »Er hat seinen Geschäftspartner und seine Sekretärin
Weitere Kostenlose Bücher