Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
war, um sich dann wieder mit neuem Selbstvertrauen und frischer Perspektive den alten Problemen zuzuwenden.
Sie waren auf dem North Kendall Drive und fuhren an der Dadeland Mall vorbei. Im vergangenen Juli hatte dort eine der schlimmsten Schießereien der jüngeren Vergangenheit stattgefunden. Eine Gang von Kokain-Cowboys hatte mitten am Tag, als in der Mall Hochbetrieb herrschte, einen Rivalen und seinen Leibwächter mit Maschinengewehrfeuer eingedeckt. Seither war Kendall den Leuten ein Begriff. Zuvor war es eines der bestgehüteten Geheimnisse Miamis gewesen, nur Immobilienmaklern und den Einwohnern bekannt.
Wer Geld hatte und gesehen werden wollte, lebte in Coral Gables, wo Touristenführer ihren mit Ritsch-Ratsch-Klick-Kameras ausgerüsteten Kunden die Häuser der Prominenten zeigten, ansonsten zog man nach Kendall. Ein Großteil seiner Anziehungskraft lag just in seiner Anonymität. Man fuhr hindurch und hatte keine Ahnung, wo man war. Eine unauffällige Wohngegend, deren Hauptstraßen von bescheidenen Häusern mit Flaggenmasten gesäumt wurden, hier und da ein Motorboot vor der Garage. Jenseits der Hauptstraßen lagen die größeren, teureren Häuser, aber man musste sie schon kennen, um sie zu finden. Ruheständler und Halbruheständler zog es nach Kendall, weil es weit genug vom Strand entfernt lag, um vom Getümmel des Tourismus verschont zu bleiben, aber zum Einkaufen, fürs gesellschaftliche Leben und für Notfälle immer noch nah genug an der Innenstadt von Miami. Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Viertel auch bei Exdiktatoren und ihren Handlangern, ausländischen Betrügern auf der Flucht, aufgeflogenen Hochstaplern, politisch Verbannten, ehemaligen Kriminellen und in Vergessenheit geratenen Berühmtheiten jeglicher Couleur.
Preval Lacour hatte, bis er durchgedreht war, ein angenehmes Leben geführt. Er wohnte auf der Floyd Patterson Avenue, einer von Bananenstauden gesäumten Straße mit lauter geschlossenen Wohnanlagen, die über einen eigenen privaten Sicherheitsdienst, Überwachungskameras und individuelle Hotlines zu Polizei und Rettungsdiensten verfügten. Diese Art zu leben – abgetrennt von der Straße und unter dem Schutz bewaffneter Wachleute – wurde bei gut verdienenden Bürgern Miamis, die sich von der explodierenden Verbrechensrate verunsichert fühlten, zusehends populär. Allein in den vergangenen sechs Monaten waren die Einbruchsraten um hundertfünfzig Prozent gestiegen, und die Einbrecher waren sehr viel brutaler geworden: Wo sie die Hausbewohner einst gefesselt hatten, um sich mit ihrem Geld und ihren Wertsachen davonzumachen, waren jetzt brutale Misshandlungen und Vergewaltigungen ebenso an der Tagesordnung wie Mord und Brandstiftung.
Vor der Einfahrt zum Melon Fields Estate, Lacours Anschrift, blieben sie stehen. Max zeigte dem Wachmann hinter dem doppelflügeligen Tor seine Dienstmarke und teilte ihm mit, zu wem sie wollten.
»So lässt sich’s leben«, sagte Joe, als sie auf den großen, kopfsteingepflasterten Hof mit dem kunstvollen Springbrunnen in der Mitte fuhren: Vier Delfine, Rücken an Rücken, mitten im Sprung eingefroren, aus deren Schnauzen Wasser spritzte und in einem runden, flachen Becken landete, in dem rosafarbene und gelbe Blüten schwammen.
Hinter den Büschen und Bäumen wirkten die dreistöckigen Häuser mit den ockerfarbenen Dachziegeln und den Fensterläden wie prächtige, schüchterne Tiere. Die Lacours lebten im vorletzten Haus rechts. Max und Joe fuhren auf den Hof und parkten neben einem weißen Volvo Kombi, der von Laub und geplatzten Samenkapseln bedeckt war – Überreste der letzten Gewitter.
Joe drückte auf die Klingel. Sanftes Glockengeläut, gerade laut genug, dass es auch draußen zu hören war. Max spähte durch das Fenster zur Linken und blickte in einen Raum, der für ein Fest dekoriert war: goldene Girlanden an der Decke, geschrumpelte Luftballons, ein vollständig gedeckter Tisch mit mehreren Flaschen und zwei Krügen in der Mitte, aber kein Essen und keine Menschen. Dennoch hätte Max schwören können, jenseits des Fensters etwas gehört zu haben, und im Zimmer sah er Bewegungen.
Er zog die Waffe und trat zur Seite. Unter seinem Schuh knirschte es. Er schaute nach unten und sah, dass er soeben einen Teil einer langen Prozession grüner Stutzkäfer zermalmt hatte, die sich auf das Haus zubewegten. Die Prozession verschwand unter der Haustür. Er wollte gerade weitergehen, als er am anderen Ende der Treppe eine zweite
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