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Der Totenschmuck

Titel: Der Totenschmuck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stewart Taylor
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Nachdem Großbritannien sich diesem Trauerkult verschrieben hatte, folgte Amerika. Aus Haaren gefertigter Schmuck wurde ein wichtiger Teil des Trauerns. Bevor ein Mann in den Krieg ziehen musste, ließ er sich eine Haarlocke abschneiden - als Erinnerung, und wenn der Soldat starb, wurde daraus Trauerschmuck.«
    Sie dimmte das Licht und zeigte ihren Studenten dreißig Dias mit Schmuck, der typisch für die Bürgerkriegsära war.
    »Jetzt möchte ich Ihnen einige Porträts von Frauen der Sechziger- und Siebzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts zeigen, die Trauerschmuck trugen.« Sie wählte das nächste Dia aus dem Karussell, das eine wohlgenährte Matrone zeigte, die ein hochgeschlossenes Kleid mit einer Trauerbrosche trug.
    Sie diskutierten noch eine Weile über Trauerschmuck und anschließend zeigte Sweeney eine Aufnahme mit Teilnehmern einer Séance aus dem Jahr 1872.
    »Als ob es nicht genug wäre, mit der Trauer um einen verstorbenen Geliebten umgehen zu müssen, fielen die Hinterbliebenen im Viktorianischen Zeitalter auch noch einer neuen Art von Straßenhandel anheim. Spiritisten behaupteten, mit den lieben Verblichenen in Kontakt treten zu können, so dass die Angehörigen mit ihnen kommunizieren konnten. Es gibt bekannte Geschichten von Spiritisten, die sich während der Séancen in Schränke sperren ließen, damit sie die sogenannte Erscheinung nicht beeinträchtigten. Das wurde jedoch jedes Mal umständlich inszeniert, und oft handelte es sich bei der gespenstischen Erscheinung im Salon um niemand anderen als den Spiritisten selbst, nur verkleidet. Aber Spiritisten wurden immer beliebter. Jeder, der es sich leisten konnte, nahm an einer Séance teil, wo es hieß, man könnte mit den lieben Verstorbenen sprechen. Natürlich verlangten die Spiritisten horrende Summen dafür, aber der emotionale Preis, den sie von ihren Opfern forderten, war eigentlich noch höher.«

    Sweeney wollte zum nächsten Dia übergehen, als Ashley fragte: »Woher wissen Sie denn, dass das gar nicht echt war? Wie kommen Sie dazu zu behaupten, dass es keine Geister gibt?«
    Sweeney sah sie misstrauisch an. »Also kommen Sie, Ashley«, erwiderte sie. »Vom akademischen Standpunkt aus betrachtet, ist diese Materie sehr interessant. Aber es ist einwandfrei nachgewiesen, dass diese sogenannten Medien Betrüger gewesen sind und dass die Spiritisten verschiedene hoch entwickelte Instrumente eingesetzt haben, um die gewünschten Effekte zu erzielen. Sie haben mit der Trauer ihr Geschäft gemacht.«
    »Aber woher wissen Sie das? Wie wissen Sie, dass die Toten nicht wieder zurückkommen, um uns zu besuchen? Wie wissen Sie, dass die Mordopfer nicht wiederkehren, um uns zu verraten, wer sie auf dem Gewissen hat?«
    Sweeney hatte es die Sprache verschlagen. Sie blickte in die Runde, aber alle starrten unsicher auf die Tischplatte. Bevor sie sich sammeln konnte, fuhr Ashley fort.
    »Die Leute denken immer, sie wissen Bescheid«, stellte sie ärgerlich fest. »Aber das tun sie eben nicht. Sie wissen gar nichts. Da draußen gibt es eine ganze Welt, über die wir nicht das Geringste wissen. Jeder kann wiederkommen, jeder kann versuchen, mit uns in Kontakt zu treten, sogar …«
    Aber Jennifer unterbrach sie. »Beruhige dich, Ashley, sie greift dich doch nicht persönlich an. Sie hat nur erklärt, wie wir damit umgehen müssen.«
    »Aber was ist mit …«
    Jetzt schaltete sich Raj warnend ein: »Ashley …«
    Einen Augenblick herrschte eine gespannte Stille, doch dann lehnte sich Ashley wider Erwarten in ihrem Stuhl zurück, ohne zu widersprechen.
    »Jedenfalls«, nahm Sweeney zögernd ihren Faden wieder auf, »haben die Menschen, die die Spiritisten aufgesucht haben, in erster Linie gar nicht den Kontakt mit den Verstorbenen
gesucht, sondern fanden schon allein in dem Wissen Trost, dass ein Kontakt mit ihnen möglich war. Die Hinterbliebenen wollten sich von Schuldgefühlen befreien und die Dinge klären, die sie bedrückten. Die Spiritisten spielten eine große Rolle in dem Umgang der Amerikaner mit dem weit verbreiteten Sterben. Auch im Trauerschmuck - egal, ob er aus Haaren gefertigt war oder ob es sich um eine Trauerszene handelte - manifestierte sich der Umgang mit der Trauer. Beim Tragen dieses Schmucks ging es ebenso sehr um gesellschaftliche Konventionen wie um emotionale Reaktionen auf den Tod. Noch Fragen?«
    Sonst verbrachten die Seminarteilnehmer die letzte halbe Stunde ihrer Zeit damit, Sweeneys Unterricht zu diskutieren, aber heute

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