Der Totenschmuck
angemessenes Lächeln aufsetzen konnte, registrierte Sweeney noch etwas: bodenlose, nackte Angst. Jennifer lächelte.
»Ah, hallo«, sagte Jaybee. »Wir sind gerade erst gekommen.« Er stellte sie der jungen Frau vor, einer großen Blonden namens Alison. Sie war hübsch nach Barbie-Maßstäben und wirkte irgendwie aufgeregt, fand Sweeney, mit geröteten Wangen und glänzenden Augen.
Alle starrten sie einen Augenblick wortlos an, bis Jennifer, liebenswürdig wie immer, sagte: »Wir haben uns gerade über das Haus unterhalten. Ist es nicht schön?«
»Ja, das ist es.« Sweeney wandte sich an Becca und Jaybee. »Ich wollte Ihnen nur mein Beileid aussprechen. Über unser Seminar müssen Sie sich keine Gedanken machen. Wenn Sie Textmaterial oder Ähnliches benötigen, schicken Sie mir einfach eine E-Mail und Sie bekommen die Dateien. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen, um sich wieder in den Alltag einzuklinken. Ich weiß, dass Sie eine schreckliche Zeit durchmachen müssen.«
»Vielen Dank«, antwortete Jaybee. Es entstand erneut eine unangenehme Pause. Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon und verstummte nach zwei Signalen. Sweeney ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Jack stand jetzt mit Drew und Melissa zusammen, seine schlanke Figur bildete einen Gegenpol zu Drews behäbiger Gestalt.
»Also, ich muss mich jetzt auf den Weg machen«, sagte die Blonde. »Wir sehen uns später.«
»Ja, tschüss«, sagte Becca mit gespielter Fröhlichkeit.
Sie folgten ihr mit dem Blick bis zur Haustür, und Sweeney wollte sich auch schon verabschieden, als Jaybee sagte: »Diese Zicke. Ich kann es nicht glauben, dass sie hier aufgetaucht ist.«
»Sie war nicht mal mit Brad befreundet«, erklärte Becca an Sweeney gewandt. »Sie wollte nur mal das Haus sehen.«
»Angeblich hat sie Brads Mutter erzählt, sie und Brad seien seit dem ersten Collegejahr Freunde gewesen«, sagte Jaybee.
Sie sahen sich schweigend an.
»Jeder hat eben so seine Gründe für das, was er tut«, versuchte Sweeney zu beruhigen. »Der Tod provoziert manchmal ganz merkwürdige Verhaltensweisen. Vielen geht es so, dass sie ein Teil der Trauer sein wollen. Dann fühlen sie sich irgendwie dazugehörig.«
»Ich möchte Sie nicht beleidigen, Sweeney, aber das ist Quatsch«, stellte Jaybee fest. Sie hatte ihn noch nie so verärgert erlebt. Seine normalerweise gelassene Art hatte sich in nackte Wut verwandelt. »Sie wollte sich nur das Haus ansehen.«
Zum ersten Mal hatte Sweeney eine Vorstellung davon, was es bedeuten musste, ein Putnam zu sein.
Die Mäntel waren in die Garderobe neben dem Wohnzimmer im Parterre gehängt worden, erfuhr Sweeney, als sie gehen wollte. Die junge Frau vom Personal, die ihr den Mantel abgenommen hatte, war nirgends zu sehen, aber Sweeney folgte einem anderen Gast und fand so den schmalen Raum in dem kleinen Flur neben der Haustür. An einer Längsseite befand sich ein riesiger Wandschrank mit zwei Lehnstühlen davor. An der gegenüberliegenden Wand hingen Spiegel in verschiedener Form und Größe. Sweeney blickte in ihr gespiegeltes Gegenüber, ihre grünen Augen wirkten ungewöhnlich hell. Nervös und neugierig besah sie sich in dem Glas. Hatte Jack Putnam sie so gesehen, als er sie im ersten Stock betrachtet hatte? Hatte er sich vorgebeugt, um sie zu küssen, bevor sie aufgestanden war? Es war vielleicht abwegig, dass er sie nach dem Gedenkgottesdienst für seinen Bruder hätte küssen wollen, aber wie Sweeney Becca und Jaybee erklärt hatte, verursachte der Tod manchmal merkwürdige Dinge in den Menschen. Jack Putnam wäre nicht der Erste, der etwas Bestätigung in seinem Status als lebendiges, atmendes menschliches Wesen aus Fleisch und Blut im Angesicht der Vergänglichkeit gesucht hätte.
Ihren Mantel konnte sie rasch finden und sie schlüpfte hinein, als sie Jacks Stimme auf dem Flur hörte.
»Cammie, hör auf, okay?«
In den Spiegeln der gegenüberliegenden Wand konnte sie Jack, Camille und Drew auf dem Korridor stehen sehen. Sie trat einen Schritt zurück und drückte sich gegen die Wand, bis sie sich selbst nicht mehr in dem Glas spiegelte.
Es entstand eine kurze Pause, dann hörte Sweeney die Stimme von Camille.
»Aber das ist nicht ehrlich. Ich kandidiere für dieses Amt, verdammt noch mal.«
»Er hat Recht, Cammie. Es ist ganz einfach. Wir lassen alles so wie besprochen.« Drews Stimme klang heiser und bestimmt.
»Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Wenn es jetzt herauskommt oder
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