Der Totenschmuck
Ihre Fotos gesehen.«
»Das macht nichts«, erwiderte Melissa. »Ist das nicht gut gelungen? Das ist bei Jacks Vernissage vor ein paar Monaten entstanden.«
Sweeney schämte sich, weil sie erwischt worden war, stellte das Foto wieder zurück und sagte mit aufgesetzter Begeisterung: »Ja, wirklich großartig. Ich denke, ich sollte jetzt gehen.«
Schweigend stiegen sie die Treppe hinab.
Quinn sagte kein Wort, bis sie bei ihrem Wagen waren, aber als er hinter dem Steuer saß und Sweeney die Beifahrertür
geschlossen hatte, schlug er mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Diese Leute halten mich zum Narren und geben vor, sie wüssten nicht, was sie tun. Dabei wissen die das ganz genau!«
»Immerhin haben sie ihren Kopf noch mal gerettet.«
»Aber nur, weil Sie die Familie damit konfrontiert haben. Immer vorausgesetzt, sie sagen tatsächlich die Wahrheit«, bemerkte Quinn mit einem schnellen Seitenblick.
»Ich denke schon«, gab sie zurück. »Ich weiß auch nicht, warum. Ich denke es einfach. Warum haben Sie Jack gefragt, ob er etwas in der Wohnung zurückgelassen hat?«
Quinn blickte geradeaus und dachte nach. »Wir haben etwas gefunden, neben dem Bett. Ein Notizblock mit ein paar Stichworten. Es war nicht Brads Handschrift und auch nicht die von seinem Mitbewohner.«
»Was stand denn da?«
Er sah abwägend zu ihr herüber.
»Irgendwas über das Back-Bay-Tunnelprojekt. Wann mit der ganzen Konstruktion begonnen wurde und allgemeine Angaben über das Projekt. Wer auch immer sich das notiert hat, er hat sich gefragt, wer einen Nutzen aus dem ganzen Projekt ziehen könnte. Klingelt da was bei Ihnen?«
Sweeney schüttelte den Kopf. »Den Putnams gehören ein paar Häuser in der Back Bay, glaube ich. Aber ich bezweifle, dass sie im Moment davon sehr viel profitieren.«
»Ich denke sowieso, dass zurzeit niemand besonders viel von dem Tunnelprojekt hat, abgesehen von den Gestalten, die versuchen, dir Blumen zu verkaufen, wenn du zwölf Stunden lang im Stau stehst.«
Sweeney musste lachen.
Das Back-Bay-Tunnelprojekt war eines der endlos dauernden städtischen Erneuerungsprojekte, an dem mittlerweile seit zwanzig Jahren gearbeitet wurde - so kam es einem jedenfalls vor. Vielleicht dauerte es tatsächlich schon zwanzig Jahre, überlegte Sweeney. Das Projekt - das mittels eines Tunnels
einen problemloseren Zugang vom Zentrum nach Cambridge und einigen nördlich von Boston gelegenen Standorten ermöglichte - war vor fast zwei Jahrzehnten im Kongress verabschiedet worden und näherte sich nun seiner Fertigstellung. Es hatte chaotischen Verkehr und völlig auf den Kopf gestellte Nachbarbezirke verursacht, das Budget weit überzogen und verständlicherweise den Stresslevel der Bostoner Bürger erhöht.
»Wie auch immer«, seufzte Quinn. »Wenn Sie erfahren sollten, wem dieser Notizblock gehört, hoffe ich, dass Sie es mir sagen.«
»Ja, selbstverständlich.«
Ihr fiel auf, dass er ihr nur deshalb davon erzählte, weil er dachte, sie könnte ihm vielleicht helfen.
Vierundzwanzig
Die Skulptur lag lang ausgestreckt da, die Arme über dem Kopf gestreckt, den Rücken von quälenden Schmerzen geplagt. Die schmalen Hüften und runden Schultern verliehen ihr etwas Jungenhaftes. Sie hatte kein richtiges Gesicht, nur eine glatte Holzfläche. Dennoch konnte man sich gut vorstellen, wie die Figur vor Schmerzen schrie.
Jack Putnam nahm einen Schluck Kaffee und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er hatte den Rumpf und die Extremitäten der Figur aus roter Kirsche geschnitzt, was ihr ein merkwürdig lebendiges Aussehen verlieh, als würde das Blut durch ihre Venen rauschen. Er hatte sie nur grob abgeschmirgelt, so dass die Oberfläche körnig und rau war, etwa wie eine Katzenzunge.
Er unterbrach seine Arbeit und schenkte sich einen weiteren Becher Kaffee ein. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden ohne Unterbrechung gearbeitet, angetrieben von einer Inspiration, wie er sie seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Bei Brads Gedenkgottesdienst war ihm die Idee gekommen. Ein Mann, fast lebensgroß, der in gebeugter Haltung Gott anflehte. Jack hatte die Gliedmaßen mit Schrauben und Muttern befestigt, die er schwarz angemalt hatte. Ihm gefiel der Kontrast des dunklen Metalls zu dem rostroten Holzton.
Als er den Kaffeebecher zum Mund führte, merkte er, dass er sich den bitteren Rest vom Boden der Kanne eingegossen hatte. Mist. Er hatte wieder mal vergessen, die Platte auszuschalten.
Jetzt musste er in die Küche hochgehen, um die
Weitere Kostenlose Bücher