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Der Totenschmuck

Titel: Der Totenschmuck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stewart Taylor
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deinen Bruder trauert und dass du davon überzeugt bist, dass die Polizei alles tut, was in ihrer Macht steht, um herauszufinden, wer Brad auf dem Gewissen hat, und dass du in dieser schweren Zeit dankbar bist für die Gebete der Bürger von Massachusetts. Klar?«
    Camille hielt sich am Rednerpult fest, um nicht die Balance zu verlieren. Dann lehnte sie sich nach vorn und zwang sich, ruhig zu bleiben, obwohl sie spürte, wie Angst und Wut in ihr brodelten und sie sich eine Fluchtmöglichkeit wünschte.
    »Wenn er nur den Namen meines Bruders in den Mund nimmt«, brüllte sie in Lawrences Richtung, »dann werde ich höchstpersönlich an sein Pult treten und ihm seinen verfluchten Kopf abreißen. Verstanden?« Sie durchschnitt die
Luft so blitzschnell mit ihrer Hand, dass sie ein Pfeifen zu hören glaubte.
    Lawrence wirkte geschockt, aber Roberta brach in lautes Gelächter aus.
    »Mensch, Camille«, rief sie. »Klasse Gestik.«

Sechsundzwanzig
    Am nächsten Morgen ging Sweeney mit ihrem Kaffee auf den Balkon und sah einer ihrer Nachbarinnen beim Wäscheaufhängen in dem kleinen Innenhof zu. Es war noch früh und die Sonne war noch nicht ganz über die Hausdächer gekrochen. Die Luft war feucht und kühl, und die sich wiederholenden Bewegungen der Frau, die sich immer wieder bückte und streckte und Laken, Nachthemden und Blusen zu einem farbenfrohen Banner aneinanderreihte, hatten etwas Entspannendes an sich.
    In dem erwachenden Morgenlicht hatte Sweeney das Foto betrachtet, das sie aus Brads Zimmer mitgenommen hatte, doch es hatte ihr keine neuen Hinweise geboten. Es war zweifelsfrei nachts auf einem Friedhof aufgenommen worden. Nur Rajs Gesicht war deutlich zu sehen, doch an dem Muster aus Hell-Dunkel-Umrissen konnte sie auch weitere Personen auf dem Abzug vage erkennen. Sie fixierte die dunkle Fotografie in der Hoffnung, ein unscharfes Profil hier oder einen angedeuteten Arm oder schemenhaftes Bein dort auszumachen.
    Sie dachte an ihr Seminar vor ein paar Wochen zurück. Sie war spät dran gewesen und als sie durch die Tür stürmte, hatte sie gesagt: »Hallo zusammen, haben Sie ein schönes Wochenende gehabt?«
    Alle hatten geschwiegen, und um sich etwas Zeit zum Sortieren ihrer Gedanken zu sichern, hatte sie nachgefragt: »Ach,
lassen Sie mich doch ein einziges Mal unmittelbar an Ihrem Leben teilnehmen. Was haben Sie am Wochenende gemacht? Party? Oder waren Sie in der Bibliothek zum Lernen?«
    Als sie ihre Studenten der Reihe nach gemustert hatte, hatte eine schwer fassbare Stimmung im Raum geherrscht und sie hatte gespürt, dass alle in dem Moment an dasselbe gedacht hatten.
    »Wir sind -«, hatte Brad begonnen, war jedoch von Rajiv unterbrochen worden.
    »Wenn wir Ihnen das erzählen würden«, hatte er eingewendet und Sweeney mit einem ironischen Lächeln angesehen, »dann müssten wir Sie umbringen.«
    Sie hatte gelacht, und dieser Austausch hatte ihr die wenigen Minuten beschert, die sie gebraucht hatte, um ihre Notizen zu sortieren. Sie war nicht weiter darauf eingegangen und hatte nicht mehr daran gedacht - bis jetzt.
    Dadurch eröffneten sich einige interessante Möglichkeiten.
    Sweeney nahm ihren Kaffeebecher mit nach drinnen und warf einen Blick auf ihren Dienstplan. Sie bat ihre Studenten am ersten Tag ihrer Veranstaltungen stets darum, ihre Telefonnummern und Adressen in eine Liste einzutragen, damit sie sie bei Bedarf kontaktieren konnte. Sie war froh um diese Angewohnheit, als sie die Liste ihres Seminars über Trauerschmuck durchging, bis sie auf die Adresse von Rajivs Wohnheim stieß. Vormittags musste sie unterrichten, aber am späten Nachmittag konnte sie ihm einen Besuch abstatten.
     
    Raj wohnte in einem der älteren Wohnheime auf dem Campus, in einem Gebäudekomplex, in dem sie während ihres Grundstudiums gewohnt hatte. Sie erinnerte sich an jede Menge Beton und orangefarbene Florteppiche, aber als sie durch das Fenster neben der Eingangstür spähte, fiel ihr auf, dass alles renoviert worden war, mit hellem Holz und einem unauffälligeren grauen Allwetterteppich. Sie wartete ein
paar Minuten vor dem Eingang, bis zwei Mädchen herauskamen, aufgeregt in ein Gespräch über eine Kommilitonin vertieft, die anscheinend mit einem ihrer Professoren ausging. Sweeney unterdrückte den Impuls, ihnen zu folgen, um zu lauschen und schlüpfte durch die Tür. Rajs Zimmer lag im vierten Stock, sie nahm den Lift und suchte nach der Nummer 423.
    Nach mehrmaligem Anklopfen ohne Antwort setzte sie sich auf

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