Der Totenwächter - Roman (German Edition)
es schon viel früher passieren können. Überlege mal, wie lange sie alleine an Deck war. Warum machen diese Geister so viel Aufhebens? Alles hätte viel einfacher gewesen sein können.«
»Vielleicht hatte Grace auch nur Glück. Vielleicht ist noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen.« Linda sah Brad in die Augen.
»Oder das alles hier hat mit deiner Tochter nicht das Geringste zu tun ... und wir fantasieren uns gewaltig etwas zusammen.« Seine Stimme klang wenig überzeugend und stand im krassen Gegensatz zu seiner soeben getroffenen Analyse.
Linda legte ihre Fingerspitzen an Brads Wange. »Du willst mich beruhigen. Aber du glaubst doch nicht wirklich, was du da sagst, oder?«
Brad verzog sein Gesicht, als habe er in einen sauren Apfel gebissen. Er machte eine Schnute und sah in dieser Sekunde wie ein kleiner Junge aus, dem man den Fußball gestohlen hatte. Seine dunklen Haare hingen ihm ins Gesicht. Sein nackter Oberkörper glänzte im Sonnenlicht.
Es ist immer der falsche Moment!, haderte Linda. Eigentlich sollten wir uns jetzt küssen. Zumindest hätte ich jetzt nichts dagegen, wenn er mich in seine Arme nehmen würde.
Die Furcht um Grace ließ sie hochfahren.
Zuerst galt es, ihre Tochter zu finden. Bisher hatte sie sich immer blind auf Grace verlassen können. Es schien, als sei sie seit dem Tod ihres Vaters schneller erwachsen geworden als vergleichbare Mädchen ihres Alters. Der Gedanke, ihr könne etwas geschehen sein, ließ ihr die Haare zu Berge stehen.
12
Sie suchten jeden Millimeter auf dem Schiff ab.
Grace war weder auf der Toilette, noch war sie in ihr Zimmer gegangen ... wie auch? Linda hatte den Schlüssel. Sie und Brad trennten sich und inspizierten die Gänge. Sie lugten in die kleinen Boutiquen. Sie öffneten jeder Tür, die sich öffnen ließ. Es gab keine Spur von Grace.
Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Nach einer weiteren Viertelstunde wurde Lindas Panik übermächtig. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie ging auf das nächstliegende WC. Zornig wischte sie sich die Nässe mit einem Papiertuch weg. Sie schnäuzte sich und starrte in den Spiegel. Unter ihren Augen schwammen dunkle Ringe. Da sie kein Make-up trug, waren ihr wenigstens Verschmierungen erspart geblieben. Das änderte jedoch nichts daran, dass man eher sie für einen Geist hätte halten können, als jeden anderen Touristen auf diesem Schiff.
Vehement knallte sie die Toilettentür hinter sich zu.
Möglicherweise hatten sie Grace ja auch nur verpasst?
Sie hastete durch die Bar und blickte hinunter auf das Deck. Dort sah sie Brad mit einem der anderen Gäste diskutieren. Er wedelte mit den Armen und zeigte immer wieder auf den leer stehenden Liegestuhl, den Stuhl, auf dem Grace sich noch eine Stunde zuvor in bester Urlaubsstimmung gerekelt hatte.
Der dickbäuchige Tourist schüttelte energisch den Kopf.
Eiskalte Schauder zogen über Linda.
Sie alle sind Geister. Brad redet mit einem Geist. Er tut so, als wisse er es nicht. Das ist der pure Irrsinn!
Sie fuhr herum. Hinter ihr stand der Kellner. Er lächelte freundlich.
Und wenn ich ihn fotografiere, verschwindet er und wird zu einer Nebelwolke!
»Wo ist Grace?«, zischte Linda. Alle Muskeln in ihrem Körper waren gespannt. Sie fühlte sich wie eine Stahlfeder. Sie war schrecklich zornig. Wie gerne hätte sie diesem Kerl die Augen ausgekratzt. Er gehörte dazu. Er war einer von Ihnen!
»Entschuldigen Sie, Ma’am - ich weiß nicht.«
»Halten Sie Ihre dumme Klappe!« Linda richtete sich auf. Für diesen Augenblick war alle Angst von ihr gewichen. Sie würde dem Lügner den Hals umdrehen, wenn er nicht gleich mit der Sprache rausrückte. Sie wollte ihre Tochter wiederhaben. Und dieser Mann - dieser Geist! - wusste davon. Der Kellner wich zwei Schritte zurück. Seine Augen zogen sich zu Schlitzen. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich keine Ahnung.«
»Meine Tochter!«, schnappte Linda. »Sie kennen meine Tochter. Wir haben vor einer dreiviertel Stunde hier gemeinsam etwas getrunken. Und sie wissen ganz genau, was mit ihr geschehen ist! Sie sind doch auch einer von den - den - JÜNGERN!«
Selten hatte Grace so viel Verwirrung in den Augen eines Menschen gesehen. Der Kellner wich noch mehr zurück. Dabei wäre er fast über eines der niedrigen Bartischchen gestürzt. Sein Gesicht drückte Verletztheit aus. »Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann«, versuchte er Fassung zu bewahren. Linda konnte nur entfernt ahnen, wie sehr er,
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