Der Totenwächter - Roman (German Edition)
Bein hoch. Erneut versuchte die Kralle, die sich um ihren Kopf gelegt hatte, sie zu halten.
Grace wartet! Grace braucht mich!
Linda dachte nur einen Sekundenbruchteil an die schwere Schiffsschraube und daran, wie nahe sie ihr waren. Dann sprang sie.
Warmes Wasser schlug über Linda zusammen.
Sie machte Schwimmbewegungen und kam mit dem Kopf über die Oberfläche. Sie prustete. Mit einem höllischen Donnern brauste die Schiffsschraube an ihr vorbei. Linda wurde emporgehoben wie ein Korken und erneut unter Wasser gedrückt. Hohe Wellentäler, aufgewühlt vom Kielschatten der Karnak Dream übergossen Linda mit dreckigem, lehmigem Nilwasser. Sie spuckte und versuchte, den Kopf über Wasser zu halten. Eine kleinere Welle schwappte über ihr zusammen, ließ sie jedoch gleich wieder los. Es sah aus, als entferne das Nilschiff sich mit Lichtgeschwindigkeit. Linda fühlte sich hilflos und alleine, während sie dem Dampfer hinterher blickte. An Deck wimmelte es von mitreisenden Jüngern. Sie winkten und gestikulierten. Sekunden später waren sie schon so winzig, dass man sie kaum noch sehen konnte.
Himmel, sie schwamm im Nil! Erst jetzt wurde ihr klar, was geschehen war. Die Kopfschmerzen waren nur noch ein kleines Pochen und wurden weniger mit jedem Meter, den das Schiff sich entfernte. Zwei Minuten später war die Karnak Dream nur noch ein Glitzern. Dieses rührte von den in der Abenddämmerung eingeschalteten Bordscheinwerfern und Zierlichtern her. Es sah aus wie eines von vielen hundert Vergnügungsschiffen, die tagtäglich den Nil auf und ab fuhren.
Endlich ließen die Schmerzen sie aus dem Griff.
Sie schwamm im Nil! Vermutlich war das Wasser hochgradig verschmutzt. Ekelhaft!
Wo war Brad? Wo war der Kapitän? Alles war so schnell gegangen. Sie war einem Impuls gefolgt. Hatte sich mit den Männern nicht mehr absprechen gekonnt. Sie wollte zu Grace. Nur das zählte. Waren ihr die Männer gefolgt oder befanden sie sich in den Händen der Geister?
Linda machte regelmäßige Schwimmbewegungen. Das Wasser war warm. Zu warm. Es fühlte sich unangenehm an. Schmierig und dreckig. Sie suchte ihre Umgebung ab. Nichts! Sie war alleine. Links und rechts von ihr, in weiterer Entfernung, als sie gedacht hatte, die Ufer. Sie befand sich ungefähr auf der Mitte des Flusses. Sie musste sich ein Ufer aussuchen. Sie musste eine Entscheidung treffen.
»BRAD!«, rief sie. »AKBAR! BRAD!« Niemand antwortete ihr. Sie war alleine auf diesem geschichtsträchtigen Fluss. Über ihr zogen Reiher ihre Kreise im Abendrot.
Es gab keinen Zweifel. Brad und Akbar hatten es nicht geschafft. Sie suchte sich das Ufer aus. Da sie nur mit leichten Sachen bekleidet war, konnte sie gut schwimmen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Irgendwo gab es ein Taxi, dass sie zum Tal der Könige bringen würde.
Hatte Mamothma nicht gesagt, sie sei auserwählt? Er warte darauf, dass sie freiwillig zu ihm käme? Er sollte seinen Willen haben. Vielleicht würde er ja so lange warten. Hatte Mamothma Kontakt zu seinen Jüngern? Irgendeine telepathische Gedankenübertragung? Wusste er schon, dass sie zu ihm unterwegs war? War alles nur ein großes Spiel gewesen? Hatte man sie bewusst von Bord springen lassen? War dies der Grund dafür, dass es Brad und Akbar nicht gelungen war? War sie von Anfang an auserwählt gewesen, den Weg ins Tal der Könige zu gehen?
Man konnte es schon fast vermuten.
Sie streckte ihre Arme. Sie bewegte sich ruhig. Langsam schwamm sie voran. In ihrem Magen bohrten Erschöpfung und Hunger. Sie hatte heute früh das letzte Mal etwas gegessen. Außerdem musste sie auf die Toilette. Na, was machte es schon, wenn sie in diesen Fluss pinkelte? Sofort ging es ihr etwas besser. Das Ufer schien unendlich weit entfernt zu sein. Es war nur noch ein schwarzer Schattenriss. Die letzten Strahlen der Sonne zauberten blutrote Bilder in den Himmel und auf das Wasser. In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Grusel zog über Lindas Körper. Sie schwamm auf im Nil, tausende Kilometer von zu Hause entfernt. Sie war alleine in einem fremden Land. Mit ursprünglicher Gewalt hatte sich ihr Leben seit heute Morgen verändert.
Links von ihr ragte Schilf aus dem Wasser. Seltsame Geräusche im dunklen Grün, Linda zuckte zusammen. Unbeirrt schwamm sie weiter. Grace hatte nur noch sie. Wenn ihr etwas geschah, wäre Grace alleine, und wenn Grace etwas geschah, würde Lindas Leben sowieso beendet sein. Sie würde es niemals verkraften, ihre Tochter zu verlieren.
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