Der totgeglaubte Gott
Asket, der sich von der Welt zurückzieht, um den göttlichen Samen in sich zu kultivieren, hat der christliche Herrscher kein Vorbild, dem er folgen könnte, denn der Gott, dem er dient, hat viele verschiedene Gesichter und sein neuer Bund steht allen offen, nicht nur einem Volk. Es gibt hier Erklärungsansätze, die diese Unsicherheit als Folge der Fortüne des christlichen Glaubens in der Welt sehen: Solange die Kirche unterdrückt war, wird die Welt verachtet, sobald sie jedoch die Macht erlangt hat, ändert sich ihr Tonfall. Diese Sicht der Dinge ist zweifellos interessant. Doch der grundsätzliche Widerspruch bleibt ja, diese Unsicherheit darüber, ob dem politischen Leben wirklich etwas Gutes anhaftet, herrscht auch in den fetten Jahren. Einfach weil sie tief in den grundsätzlichen Dogmen des christlichen Glaubens verankert ist.
Das zufällige Reich
Über eineinhalb Jahrtausende hinweg wird diese Spannung hochdramatisch auf der Bühne der europäischen Geschichte ausagiert. Dieser Prüfung hatte sich keine der beiden anderen biblischen Religionen zu stellen. Welche Form der politischen Theologie im Alten Testament auch immer angelegt sein mag, seit der römischen Eroberung, der Zerstörung des Tempels von Jerusalem und der Diaspora des jüdischen Volkes schlummerte sie unerweckt im Judentum vor sich hin. Was sich auch mit der Gründung des modernen Israel nicht änderte. Die politische Theologie des Islam hingegen übte einen enormen Einfluss auf die Weltgeschichte aus, doch das lag nicht an den inneren Spannungen, die die christliche Theologie umtrieben. Der Islam eroberte sein Reich recht selbstbewusst, im Vertrauen auf eine politische Theologie, die einherging mit einem reichen Gesetzeskanon zur Regelung des sozialen Lebens. Die inneren Widersprüche dieser Tradition brechen erst in jüngerer Zeit dort auf, wo der Islam nicht mehr die politische Oberhoheit hat. Das Christentum hingegen eroberte seinen Einflussbereich mehr oder weniger durch Zufall und entwickelte die Grundprinzipien seiner politischen Theologie unter dem Druck der Umstände, die sich in den ersten fünfhundert Jahren seines Bestehens radikal veränderten, aber auch noch mehrmals danach. Resultat ist, dass jene grundlegenden Widersprüche der christlichen Theologie, die sich in unterschiedlichen christlichen Positionen zur geschaffenen Welt ausdrücken, zu einer ganzen Reihe christlich politischer Theologien führten. Doch hinter dieser Vielfalt lässt sich ein logischer Zusammenhang ausmachen.
Die Vorstellung, die Schöpfung sei von ihrem Heilsbringer verlassen und würde bei dessen Wiederkunft vollkommen zerstört, hat das frühe Christentum geprägt und war in der Folge aus dem christlichen Denken nie wieder ganz wegzudenken. Die politischen Theologien, die sich im Christentum aus diesem Denken entwickelten, könnte man – fast paradoxerweise – als apolitisch bezeichnen. Die Vordenker dieser Richtung vergleichen die Moral des Christentums mit ihrem Aufruf zur Nächstenliebe und zur imitatio Christi gerne mit den politischen Religionen der heidnischen Welt, wo Götter zu recht irdischen politischen Zwecken kreiert wurden und der Glaube an sie politisch ausgebeutet wurde. Dieses Weltbild geht davon aus, dass Israel das erste Volk war, das sich von Sonnengöttern, Fetischen, Stadtgöttern und vergöttlichten Herrschern abwandte, um sein Ohr der Stimme des einen Gottes zu leihen und den Bund mit ihm einzugehen. Dieser Bund galt bis zur Ankunft des Messias und mit ihm die Gesetze, die am Berg Sinai gegeben worden waren. Doch mit dem Evangelium Jesu Christi wurde zwischen Gott und dem Menschen eine neue Beziehung geschaffen, eine intime, direkte und spirituelle, die keine Vermittlung durch das Gesetz mehr brauchte. Diese Beziehung stand nun allen Menschen offen und war nicht mehr länger auf ein Volk beschränkt. Das Evangelium ist ein Ruf, der über die Häupter der Herrscher und Völker hinweg erging, ein Ruf, sich mit den anderen Mitgliedern der Kirche in Anbetung zu vereinen. Kein Ruf, eine neue politische Ordnung zu begründen.
Belege dafür finden sich im Evangelium zuhauf. Als Satan sich zum Versucher Jesu aufschwingt, führt er diesen auf einen hohen Berg, der die Königreiche der Welt überragt. Diese sollten sein werden, meint Satan, wenn er ihn anbeten würde. »Weg mit dir, Satan« 7 , war die Antwort. Immer wieder spricht Jesus vom Kommen des Gottesreiches, des Himmelsreiches, doch nichts von alldem weist darauf hin, dass
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