Der totgeglaubte Gott
verschwommen, konzentriert sich die Beschreibung doch auf christliches Verhalten in eher merkwürdig anmutenden politischen Fragen. Und doch beeinflusste es christliche Denker bis hin zu Martin Luther, ja bis in die Gegenwart.
In den folgenden Jahrhunderten versuchte die politische Theologie des Christentums, sich einen Reim auf das Reich zu machen, das dem christlichen Glauben mehr oder weniger zufällig zugefallen war. So sinnträchtig das Bild von den beiden Städten auch sein mochte, es bot nur wenig Rat, wenn es um die Frage ging, wie man den Flickenteppich aus politischen und religiösen Gebilden regieren sollte, die das mittelalterliche Europa umfasste, und wie sich die verschiedenen Machtansprüche darin miteinander versöhnen ließen. Als der fränkische Kriegskönig Karl der Große 800 zum ersten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde, tat dies ein Papst, der für die Herrschaft über sein Reich immer wieder sprachliche Anleihen bei den Kaisern des Römischen Reiches nahm statt bei der Bergpredigt. So bedenkenlos wurden damals die Symbole vermischt. Noch Jahrhunderte nach der Krönung stritten die Kaiser mit Bischöfen und Päpsten, um die Kirche unter kaiserliche Kontrolle oder unter die Kontrolle der Regionalfürsten zu zwingen. Die Kirche ihrerseits streute den Mythos, Kaiser Constantin habe der Kirche auch weltliche Macht über seine Länder gegeben, und behauptete forsch ihren Primat, den sie allerdings nur selten durchsetzen konnte. In Wirklichkeit aber herrschten weder Kaiser noch Päpste über die Ländereien. Die Autorität im Feudalstaat lag bei Königen, Fürsten, Herzögen und den freien Städten. Die Autorität der Kirche ging unter in den Streitigkeiten zwischen Päpsten und Gegenpäpsten, Bischöfen, Klöstern und Kirchensprengeln. Als die westliche Christenheit sich ausbreitete und alle noch verbleibenden Heiden auf europäischem Boden bekehrte oder besiegte, entstand eine breit gefächerte, mächtige Kultur, deren politisches Leben allerdings mit christlichen Kategorien kaum zu fassen war. Das Neue Testament formuliert zwar moralische Prinzipien und ein Menschenbild, das zu einer politischen Theorie beitragen könnte, doch es kennt kein klares Bild von einer im christlichen Sinne »guten« politischen Ordnung. Und auf das Alte Testament mit seinem Bild des Davidischen Königtums konnte man kaum Bezug nehmen.
Im Mittelalter beschränkte sich die politische Theologie des Christentums auf eine Art Bilderdenken, eine Suche nach Metaphern, die helfen konnten, die Natur christlicher Politik zu erklären. Daraus entstand eine farbige, manchmal geradezu naive Literatur, die jedoch kaum Anhaltspunkte für rationale Argumentation bot. Viele christliche Denker verglichen den christlichen Staat mit dem Menschen als Ganzes: der König sei der Körper, die Kirche die Seele. Natürlich müsse die Seele über den Körper herrschen. Andere sahen im König den Kopf, in den anderen Körperteilen die verschiedenen sozialen Klassen der mittelalterlichen Gesellschaft. Der König herrscht zwar, doch ist seine Existenz vom Rest des Körpers, für den er Verantwortung trägt, abhängig. Aus der Theologie der Menschwerdung schuf man einen ganzen Komplex von Theorien und Symbolen, mit denen man zwischen den »beiden Körpern« des Königs unterschied: dem einen, der für seine individuelle Existenz stand, und dem anderen, der ihn als Träger des göttlichen Amtes repräsentierte. Und natürlich waren König und Kaiser nicht die einzigen Herrscher, deren Amt eine solche Neuinterpretation zuteil wurde: Auch um das Amt des Papstes rankte sich bald ein breit gefächerter Komplex von Symbolen, schon um dieses vom Amt des Königs oder Kaisers zu unterscheiden und deren Beziehung zueinander zu klären. Die einflussreichste Theorie war wohl die von den »zwei Schwertern«, die ihre Wurzeln im Neuen Testament hatte 8 . Diese Auslegung besagt, dass die Christenheit gleichzeitig geistliche und weltliche Führung braucht. Im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts rückte sie in den Mittelpunkt des Geschehens, als sich die Frage stellte, ob der Papst das Recht habe, beide Schwerter zu führen, oder ob nicht eines davon dem Kaiser bzw. König zukäme.
Diese Bilder verschwanden nie mehr ganz aus dem christlich politischen Denken, erfuhren allerdings im Rahmen der christlichen Neuentdeckung eines altgriechischen Philosophen – des moralischen und politischen Denkens von Aristoteles – eine Neufassung. De
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