Der totgeglaubte Gott
Europa sollte dem Würgegriff der politischen Theologie des Christentums entzogen werden, da die Philosophen der frühen Moderne diese für Jahrhunderte der politischen und religiösen Gewalt verantwortlich machten. Über andere religiöse und theologische Traditionen wussten sie nur wenig. Die intellektuelle Struktur der christlich-politischen Theologie hingegen, die ebenso außergewöhnlich wie außergewöhnlich problematisch war, war ihnen nur allzu vertraut.
Das Christentum folgt auf das Judentum und entwirft wie dieses einen transzendenten Gott, der Mensch und Welt geschaffen hat. Außerdem teilt es mit dem Judentum die eschatologischen Heilshoffnungen und das Versprechen der letztendlichen Erlösung. Was das Christentum jedoch von der Religion der Väter unterschied, war seine Auffassung des Messias. Auch das Judentum hegte unterschiedliche Auffassungen über den Messias, die sich im Laufe der Jahrhunderte änderten, doch innerhalb der orthodoxen Tradition galt der Messias im Allgemeinen als Mensch, der das jüdische Volk um sich sammeln, das Haus Davids wiederherstellen, den Tempel wiederaufbauen und das Reich der Gerechtigkeit auf Erden errichten würde. Das Christentum hegte diesbezüglich ganz andere Vorstellungen: nämlich, dass der Messias bereits auf Erden gelebt und sie schon wieder verlassen habe; dass er eine Inkarnation des Göttlichen sei, nicht nur ein Mensch, wenngleich er als solcher heroische Züge trug; dass er allen, die an ihn glaubten, Heil bringen würde, und nicht nur einem bestimmten Volk; und dass er, wenn er zum zweiten Mal erschiene, das Ende der Zeiten einleiten würde, die Toten auferstünden und das Jüngste Gericht gehalten würde. Im Mittelpunkt des Christentums steht eben dieser Glaube an die Inkarnation des Messias: Gott wird zum Menschen. Diese Vorstellung ist auch die Quelle der politischen Theologie, die für das Christentum so bezeichnend war.
Möglicherweise können wir heute besser verstehen, wie es dazu kam. Alle Gottesbilder, die wir bisher unter die Lupe genommen haben, waren stabil in dem Sinne, dass Gott bleibt, wo er ist, während Mensch und Welt um ihn herum sich wandeln. Gott findet sich entweder in Welt und Zeit, jenseits von Welt und Zeit oder schwebt auf transzendente Weise dazwischen wie der Gott des Alten Testaments. Der christliche »Gottvater« ist ähnlich transzendent. Doch indem er seinen Sohn entsandte, stieg Gott gleichsam in unsere Welt herab und gab seine Transzendenz preis. Der Messias wurde Fleisch, fast wie ein immanenter Gott. Doch er blieb nicht bei uns auf der Erde. Er wandte sich von uns ab, fast wie der Gott der Gnostiker und gab uns das Versprechen, am Ende der Zeiten zurückzukehren. Diese göttliche Bewegung, die Hegel zurecht als Kernstück des Christentums sah, stellt einen tiefgreifenden Wandel im Bild des transzendenten Gottes dar und damit auch im kurzen Leben des Menschen.
Der jüdische Messiasglaube kennt ein eschatologisches Ende, an dem die Menschheitsgeschichte aufhört, die mit der Schöpfung begann. In der Zeitspanne zwischen diesen beiden Punkten geschehen zwar wichtige Dinge, die das Schicksal des jüdischen Volkes beeinflussen, doch die Beziehungen zwischen Mensch und Gott bleiben unverändert, festgelegt vom alttestamentarischen Bund und seinen Gesetzen. Ihr Charakter ändert sich nicht. Der christliche Messias hingegen taucht an einem bestimmten Zeitpunkt auf, er schafft einen Bruch in der Geschichte und teilt sie damit in drei historische Zeiträume. Die erste Epoche reicht von der Schöpfung bis zur Geburt Christi. Die Kirchenväter sehen sie als praeparatio evangelica , »Vorbereitung auf das Evangelium«. Die zweite Epoche beginnt mit Christi Geburt und reicht bis zur »Wiederkunft«, dem zweiten Erscheinen des Messias. Sie ist unser saeculum , das – was die Beziehung zu Gott angeht – unter einem neuen Zeichen steht. Von nun an wird diese Beziehung von Liebe und Gnade beherrscht, nicht mehr nur vom Gesetz. Und sie ist erfüllt von der Präsenz des Heiligen Geistes. Doch auch dies ist nicht die letzte Epoche der Menschheitsgeschichte, denn sie enthält das Versprechen einer anderen Zeit, die kein Ende hat und in der die Wiederkunft des Messias und das Jüngste Gericht Gottes »alles neu« machen. Dem jüdischen Denken schien die Vorstellung von einem menschgewordenen Messias und einem omnipräsenten Heiligen Geist wie eine Rückkehr zu heidnischen Vorstellungen von einem immanenten Gott. Doch das Christentum
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