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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lilla
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facto nämlich hatte die Christenheit im Mittelalter ein funktionierendes politisches System entwickelt, das fest in der Welt verankert war. Sie hatte nur Schwierigkeiten, sich das einzugestehen. Daran lassen sich viele ihrer inneren Widersprüche ablesen. Als der heilige Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert seine Summa theologiae veröffentlichte, schenkte er der Kirche damit die umfassendste und theologisch kohärenteste Abhandlung der christlichen Doktrin, die denkbar war. Und die am wenigsten widersprüchliche Stellungnahme zum politischen Leben der Christenheit. Thomas hatte sich an Aristoteles orientiert. Von ihm lernte er, dass der Mensch ein politisches Wesen war und das politische Leben zur Vervollkommnung des Menschen beitragen konnte. Thomas eigene Leistung war es, dass er die aristotelische Vorstellung mit den christlichen Ideen über die im Wesentlichen geistige Natur und das Schicksal des Menschen kunstvoll verwob. So vermachte er seinen Glaubensbrüdern die erste politische Theologie des Christentums, die der weltlichen, politischen Existenz Rechnung trägt. Seit den Zeiten der Kirchenväter hatte sich kein bedeutender Theologe mehr mit dem zukunftsgerichteten Potenzial der Menschwerdungs-Vorstellung auseinandergesetzt. Ohnehin war Thomas der Erste, der daraus eine politische Theologie entwickeln sollte.
    Nach Thomas entwickelte sich eine reiche Tradition katholischer Theologie, die dem politischen Leben weniger abgeneigt schien als die von Augustinus inspirierten Strömungen. So mancher Theologe bastelte an den Grundlagen des thomistischen Systems, andere versuchten, seine Prinzipien auf ganz neue Fragestellungen anzuwenden, wie z. B. die Herrschaft über die Kolonien in der Neuen Welt. Und es entstand eine bilderreiche Literatur über den idealen christlichen Staat, der von einem idealen christlichen Herrscher regiert wurde. Die Kämpfe um die innere Organisation der Kirche, in der Päpste und Kirchenräte sich gegenüberstanden, führten auch innerhalb der Kirche zu ersten Reformschritten, bei denen Ansätze protomoderner Prinzipien wie Gewaltentrennung oder religiöse Toleranz verwirklicht wurden. Die protestantischen Kirchen lehnten die grundlegenden theologischen Prämissen der katholischen Position zwar ab, doch gab es auch dort Reformer wie Johannes Calvin, die mit dem Gedanken der christlichen Offenbarung als Aufruf zur Übernahme von Verantwortung auch im politischen Leben, in dem die Kirche sich zurechtfinden muss, durchaus etwas anzufangen wussten.
    Die beiden wichtigsten Richtungen politischer Theologie des Christentums gehen also von denselben Bildern aus: dem menschgewordenen Messias und dem dreifaltigen Gott – doch ziehen sie daraus sehr unterschiedliche Lehren, was das »gute Leben« in der Politik angeht und deren Platz im Leben eines Christen. Doch es gibt noch eine dritte Strömung, die zwar zahlenmäßig klein bleibt, aber trotzdem sehr einflussreich ist und die mitunter auf höchst dramatische Weise an die Oberfläche drängt und die Geschichte des Westens prägt wie ein unterirdischer Geysir.
    Das Christentum ist eine Erlösungsreligion und nährt als solche die Hoffnung auf die Transformation des irdischen Daseins durch göttliches Handeln. Diese Hoffnung drückt sich im Bild von der Wiederkunft Christi und der fortdauernden Präsenz des Heiligen Geistes aus. Während Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi viele Gläubige mit einem Gefühl der Leere zurücklässt, das sie veranlasst, sich von der Welt zurückzuziehen, erweckt das Erlösungsversprechen, das in Christi Wiederkehr liegt, ganz andere Gedanken und Emotionen – im Hinblick auf den stets aktuellen Kampf gegen Satan, die apokalyptische Zerstörung der Welt, das Land, wo Milch und Honig fließen, das Neue Jerusalem. Die dritte Strömung der politischen Theologie des Christentums wurzelt in eben diesen messianischen und apokalyptischen Elementen des Glaubens, die sich unter bestimmten Umständen zu einer eschatologischen Vision des politischen Lebens umdeuten lassen.
    Man muss kein Bibelkenner sein, um die Quellen dieser Bildwelten zu finden. Man muss sie nur aus der richtigen Perspektive lesen. Die Juden haben sich seit jeher an den späten Propheten orientiert. Dies gilt auch für eifernde Gläubige, die diese Propheten einer tendenziösen Lektüre unterziehen, um darin Hinweise auf die nahe Wiederkunft Jesu zu finden. Im Alten Testament gibt es da z. B. den Traum vom Propheten Daniel, der den Menschensohn vom

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