Der totgeglaubte Gott
(Einige Theologen spekulierten gar, der Teufel selbst könne zu Gott zurückgebracht werden.) Die moralische Vervollkommnung des Menschen könne durch die verschiedensten Einflüsse vorangebracht werden, also nicht nur durch Gnade und Offenbarung, sondern auch bspw. durch die Beschäftigung mit heidnischer Philosophie. Außerdem sei sie keineswegs nur als schockartiges Erlebnis denkbar, durch plötzliche Bekehrung etwa oder das Erfülltwerden vom göttlichen Geist. Sie finde vielmehr stufenweise statt durch das Engagement des Menschen in der Welt. Daher solle der Mensch sich der Welt zuwenden – in Arbeit, Studium, Kirche, Familie und Politik – und dazu beitragen, dass der Heilige Geist sich in seinem Umfeld weiter verbreite. Die Bereitschaft Gottes, hinabzusteigen und Fleisch zu werden, unser Leid und unsere Freude zu teilen, zeige uns ja, dass er seine Schöpfung immer noch als wesensmäßig gut betrachte.
Doch es gibt eine zweite Richtung im moralischen und politischen Denken des Christentums, die dieser diametral entgegengesetzt ist und dem Menschen und der Welt gegenüber eine viel skeptischere Position einnimmt. In ihr verkörpert sich eine Sorge, die mit der menschlichen Psyche zu tun hat. Wenn nämlich der Mensch davon überzeugt sei, dass die Schöpfung grundlegend gut sei, wird er daraus wohl schließen, dass er die göttliche Gnade gar nicht braucht. Er wird – so der christliche Name für diese Art der Häresie – zum Pelagianer 6 . Und dies ist tatsächlich eine schwerwiegende Anklage, denn wenn der Mensch tatsächlich die Folgen des Sündenfalls ohne göttliche Hilfe überwinden könnte, wenn der Mensch in einer grundlegend guten Welt aus eigener Kraft leben könnte, wozu bräuchte er dann Gott? Um diesem Standpunkt zu begegnen, haben christliche Denker über die Jahrhunderte hinweg immer wieder darauf hingewiesen, dass Christus selbst die Welt ja hinter sich gelassen habe, eine Welt, die weiterhin in Sünde befangen sei. Eben weil der Mensch ein Geschöpf der Welt sei, so heißt es, werde er von der Sünde beherrscht. Dieser Makel des Menschseins könne niemals getilgt werden. Er mag zwar nach dem Bilde Gottes geschaffen sein, doch nutze er seine Willensfreiheit ja immer wieder dazu, sich selbst zu beflecken. Was der Mensch mit dem Göttlichen gemeinsam habe, sei ihm einzig durch göttliche Gnade verliehen. Er habe es nicht durch seine Stellung im gottgeordneten Kosmos verdient. Eigentlich habe er es gar nicht verdient.
Diese Überzeugung wirkt sich auf die Beziehung der Christen zur Welt aus. Wenn man sie ernst nimmt, erinnert sie uns daran, dass es seit Christi Geburt in der Welt nur noch einen Weg zu Gott gibt: im Herzen. Ein innerer Weg also, der nicht hinaus in die Welt führt. Es ist eitel zu denken, wir könnten uns Gott annähern, indem wir etwas über die Welt in Erfahrung bringen, uns selbst vervollkommnen oder unsere politischen Institutionen nach den Vorstellungen biblischer Moral reformieren. Nicht unsere Werke in der Welt rechtfertigen uns, sondern unser Glaube an Jesus Christus. Wir versöhnen uns mit Gott durch seine Gnade, durch den Heiligen Geist, nicht durch unser Tun und Lassen, ja nicht einmal durch unsere Initiative. Wenn wir uns in der Sünde an Gott wenden, dann geht diese Hinwendung von ihm aus, nicht von uns. Wir finden Erlösung, wenn er es will, wenn er uns aus seiner gestrauchelten Welt erhebt und diese zerstört, uns aber wieder in seinen Schoß aufnimmt. Wenn wir also in der Welt aktiv sind, dann nach seinem Willen und um seinen Zwecken zu dienen.
Die Vorstellung vom göttlichen Nexus fand im Christentum ihren höchsten Ausdruck in der Idee vom dreifaltigen Gott. Sie erklärt die Paradoxien des zeitlichen Lebens, das vom Transzendenten zwar berührt, jedoch nicht durchdrungen wird. Kritiker des christlichen Glaubens sehen in der Dreifaltigkeit nur ein hoffnungsloses Chaos, das einer ganzen Reihe von moralisch fragwürdigen Häresien Tür und Tor öffnet. Doch wie wir dieses theologische Instrument auch sehen mögen, die Herausforderungen, die es über die Jahrhunderte an die politische Theologie des Christentums stellt, liegen auf der Hand.
Allein seine Komplexität macht es politisch schwer vermittelbar, da Gott in der zeitlichen Welt, in der Politik gemacht wird, gleichzeitig präsent und abwesend ist. Eine Welt, in der das Postulat grundlegender Güte zumindest fragwürdig erscheint. Anders als der Priesterkönig, der einem immanenten Gott dient, oder der
Weitere Kostenlose Bücher