Der totgeglaubte Gott
dies ein politisches Reich sein wird. Ganz im Gegenteil: In diesem Reich stehen jene am höchsten, die werden wie die Kinder, nicht wie die Könige. Wenn Jesus überhaupt je von politischen Führern spricht, fordert er seine Anhänger auf, ihnen zu gehorchen, Cäsar zu geben, was Cäsars ist, sich dann aber ganz dem Glauben, der Hoffnung und der Wohltätigkeit zu widmen. Im Extremfall verführt diese Haltung zu privatem Mystizismus oder zum Klosterleben fernab von der Welt, zum Rückzug von den Glaubensbrüdern und der Schöpfung an sich – keineswegs nur vom politischen Leben.
Die Lebensbedingungen der ersten Christen, einer verfolgten apokalyptischen Sekte aus armen Leuten, die in einem großen heidnischen Reich den Zusammenhalt suchte, verstärkten diese Haltung noch. Die Politik war das Reich Kains, Babylons oder des Pontius Pilatus. Auch als das Christentum sich langsam auf die oberen Schichten Roms ausbreitete, geschah dies durch das, was wir später Zivilgesellschaft nennen würden, innerhalb von Familien und Verbänden, nicht durch eine politische Entscheidung von oben. Um das einfache Leben der Apostel und die Opfer der Märtyrer entspann sich ein neuer Mythos, als immer mehr reiche Römer Christen wurden. Diese selbstauferlegte politische Entsagung blieb auch nach dem Übertritt Kaiser Constantins unverändert, als das Christentum zur offiziellen Staatsreligion wurde und sich eine breite, hierarchisch gegliederte Kirche herausgebildet hatte. Offensichtlich war dies eine zentrale Vorstellung der christlich politischen Theologie.
Als die Kirche wuchs und die messianischen Hoffnungen auf eine baldige Wiederkunft Christi schwanden, konnte man sich praktischen politischen Entscheidungen jedoch nicht mehr entziehen. Priester und Bischöfe mussten ernannt werden, Auseinandersetzungen um Glaubensinhalte geführt, der Kanon der heiligen Schriften gesichert werden. Sehr schnell formte sich eine quasi-politische Struktur im Reich, an deren Spitze der Papst stand. Der Papst reklamierte für sich zwar die Autorität des Apostels Petrus, der die Schlüssel zum Himmelreich erhalten hatte und der Fels war, auf dem die Kirche erbaut werden sollte, doch kann man dies kaum als politische Theologie verstehen. Schließlich wurde damit die Ausübung politischer Macht weder begründet noch legitimiert. Auch praktische Probleme ließen sich damit nicht lösen, z. B. der Militärdienst der Christen, die den Kriegsdienst nicht mit der Liebesbotschaft des Evangeliums in Einklang bringen konnten. Dieses Problem verlor an Schärfe, nachdem Kaiser Constantin sich offen zum Christentum bekehrt hatte. Christliche Denker wie Eusebius konnten auf dieser Grundlage eine heilsgeschichtliche Erklärung für die Existenz des Römischen Reiches entwerfen: Gott habe Roms Aufstieg geleitet, damit die Kirche dereinst durch einen christlichen Kaiser politische Macht ausüben könne. Näher kam die Christenheit der politischen Theologie, wie es sie in anderen Ländern gab, in denen der Herrscher gleichzeitig weltliches und geistiges Oberhaupt war, vorerst nicht. Und auch diese politische Theologie starb mit dem im 5. Jahrhundert beginnenden Zusammenbruch des Römischen Reiches einen langsamen Tod.
Die folgende Trennung von weltlicher und geistlicher Macht war eine historische Tatsache, die christliche Denker einfach akzeptieren mussten. Für Christen, die sich selbst als Mitglieder einer »Pilgerkirche« sahen, die auf dem Weg zur letztendlichen Erlösung durch diese irdisch-historische Welt wanderte, war dies nicht allzu schwer. Die erste große theologisch-politische Synthese dieses Gedankengangs findet sich im Gottesstaat des Heiligen Augustinus. Sein großes Werk prägte die christlich politische Theologie über Jahrhunderte, obwohl es eigentlich nur als Polemik nach der Plünderung Roms gedacht war und nicht als systematische Abhandlung der Prinzipien guter Regierungsführung. Darin wird das Schicksal zweier Städte geschildert, deren eine ganz der Liebe zu Gott gewidmet ist, während die andere dem Prinzip der Eigenliebe folgt – eine Unterscheidung, die sich so nicht unbedingt deckungsgleich auf Kirche und Staat anwenden lässt. Das Leben des Christen steht in Augustinus’ Denken im Spannungsfeld zwischen Zeit und Ewigkeit, Natur und Gnade, politischer Notwendigkeit und göttlicher Gerechtigkeit. Der Gottesstaat schafft ein sehr eindrückliches Bild dieses Lebens, doch das dort entworfene Modell einer guten politischen Ordnung ist
Weitere Kostenlose Bücher