Der totgeglaubte Gott
richtete sein Augenmerk seit jeher stärker auf das messianische Versprechen, das in Jesu’ Leiden, in seinem Tod und seiner Auferstehung lag, auf seine Abwesenheit von dieser Welt, mit der wir leben müssen. Daher rührte die größte Bedrohung für die christliche Orthodoxie in ihren ersten Jahrhunderten aus der gnostischen Unruhe über das Leben in einer von Gott verlassenen Welt.
Aller Sprengstoff, der in der Idee eines transzendenten Gottes steckt, zeigt sich in der christlichen Vorstellung von der Dreifaltigkeit. Aus eben diesem Grunde konnte diese Idee im Laufe der christlichen Theologiegeschichte so unterschiedliche, ja letztlich widersprüchliche Gottesbilder schaffen, die je nachdem entweder Gottes Transzendenz, Immanenz oder Weltabgewandtheit ausdrücken. Jedes dieser Bilder hat eine andere Schule christlich politischer Theologie hervorgebracht.
Wie aber kam es überhaupt zu dieser Vorstellung? Jede gute Geschichte christlicher Theologie wird, vor allem, wenn sie sich auf die ersten drei Jahrhunderte der Kirche konzentriert, der Entstehung des Dreifaltigkeitsgedankens einigen Raum widmen. Zu jener Zeit nämlich entwickelte sich diese Idee und wurde in einer intellektuellen Schärfe diskutiert, die spätere Debatten nicht wieder erreichten. Denn die Kirchenväter sahen sich einer doppelten Herausforderung gegenüber: Sie mussten die neue Offenbarung mit der alten in Einklang bringen. Einige von ihnen sahen sich gar vor die Aufgabe gestellt, das Christentum mit den metaphysischen und kosmologischen Lehren der griechischen Philosophen kompatibel zu machen. Wer keinen Sinn für theologische Fragestellungen hat, dem erscheinen die Themen jener Zeit vermutlich nur merkwürdig: Sind die Elemente der Dreifaltigkeit drei verschiedene »Personen« oder nur Aspekte einer einzigen? Wie kann ein grenzen- und zeitloser Gott plötzlich in Raum und Zeit auftauchen? Wenn Christus der Sohn Gottes war, war dann nur sein Geist göttlich oder auch sein Leib? Wie viel »Gott« steckte in ihm? Gibt es eine göttliche »Substanz«, die allen dreien gleich ist? Und wenn ja, hat der Mensch an dieser Substanz Anteil?
Diese Fragen brachten, wie die Kirchenväter nur zu gut wussten, ernsthafte moraltheologische Probleme mit sich. Manche Kirchenväter beschäftigten sich mit der metaphysischen Frage, ob Gott Mensch werden konnte und in welcher Form. Andere versuchten, ein konsistentes kosmologisches Modell zu entwickeln, das die Anfänge der Naturwissenschaft bei den alten Griechen mit der biblischen Offenbarung vereinte. Wieder andere stellten die Frage nach dem moralischen Status des Menschen: Wie viel göttlicher Gnade bedarf es, damit der Mensch sich bessert? Und inwieweit ist er für den Zustand seiner Seele überhaupt selbst verantwortlich? Die Debatte um die Natur des Menschen, Gnade und Erbsünde drehte sich um die metaphysische Dimension der Dreifaltigkeit ebenso wie um die Beschaffenheit von Himmel und Erde. Und doch lag all diesen Gelehrtenstreitigkeiten letztlich ein Problem zugrunde: das des grundlegend Guten in der Schöpfung. Aus ihnen entwickelten sich zwei grundsätzliche Richtungen des moralischen und politischen Denkens im Christentum, die bis heute lebendig geblieben sind.
Eine dieser Richtungen fasst das grundlegend Gute in der Welt als gegeben auf, trotz des unbestreitbaren Vorhandenseins der Sünde. Der Mensch, ein Geschöpf der Natur, ist zum Guten fähig und kann sich daher selbst ebenso verbessern wie seine Umwelt. Die Theologen der Frühzeit gingen davon aus, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sei und durch Gnade und eigene Bemühungen Gott ähnlich werden kann. Andere brachten vor, dass im menschlichen Geist ein göttlicher Same angelegt sei und Gott uns durch Glaube und die Übung unserer von Natur aus angelegten Gutheit zu sich erhebe. Welche Begriffe und Bilder sie auch benutzen mochten, die frühchristlichen Denker betrachteten die Welt als gottgesegnet. Sie empfanden sie nicht als fremd, feindselig oder gottverlassen. Obwohl der Mensch ohne göttliche Gnade gar nichts vermag, ist es nicht die Gnade allein, die durch ihn wirksam wird, sondern auch seine eigene Natur, für deren Fortentwicklung er verantwortlich ist. Der Mensch ist Gottes freies Geschöpf, nicht seine Marionette. Er ist durch den freien Willen aufgerufen, Christus nachzueifern, der sein moralisches Vorbild ist. Wenn der Mensch sich dem Bösen zuwendet, tut er dies aus eigenem Antrieb und kann daher jederzeit umkehren.
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