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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lilla
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tiefergehende, intellektuelle Krise, deren Auswirkungen nicht nur einige europäische Königtümer betrafen.
    Es ist ein überkommenes christliches Laster, das Christentum als vollendete Religion auf dem Gipfelpunkt der Weltgeschichte darzustellen, die alle anderen Religionen überwunden hat. In gewisser Weise allerdings ist dieser Anspruch gerechtfertigt: Im Christentum findet sich so gut wie jede Form politischer Theologie wieder, die je ersonnen wurde. Und alle liegen miteinander im Widerstreit. Diese enorme innere Vielfalt wurde ermöglicht durch die Doktrin von der Geburt des Menschensohns und durch die Dreifaltigkeitslehre. Sie ermöglichte es christlichen Gläubigen, ihren Gott als gleichzeitig in der Welt, jenseits der Welt und in einer ständigen Transzendenzbeziehung zur Welt zu sehen. Im christlichen Denken finden sich alle Möglichkeiten politischer Theologie angelegt, ebenso wie die damit einhergehenden Schwierigkeiten.
    Die frühen Verfechter der politischen Philosophie lernten viel von ihren theologischen Gegnern. Sie borgten sich von der christlichen Kirche so manche Idee aus, die sie geprägt hatte, während sie versuchte, sich an das politische Leben ihrer Zeit anzupassen. Die zweifellos wichtigste Erkenntnis war jedoch, dass die politische Theologie stets in eine Sackgasse führte, von welchem Ende her man sie auch aufzäumen mochte. Keine ihrer verzwickten Logeleien führte am Ende zu einem sinnvollen politischen Leben für den Menschen. Das war die große Lehre, die jene Philosophen aus der Geschichte des Christentums zogen, jene Lektion, die man begriffen haben musste, wenn man sich auf die damalige Krise des Glaubens einen Reim machen wollte. Und so versuchten sie gar nicht erst, sich in Debatten einzumischen, die die christlich politische Theologie zu reformieren suchten, wie deren kluge Verfechter im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit dies taten. Sie suchten vielmehr nach Alternativen. Nicht nach einer neuen Abzweigung im Labyrinth der politischen Theologie, sondern nach einem Mittel, um diesem ein für allemal zu entkommen.

Kapitel 2
    Die Große Trennung
    Dem Schiffer ist die Kenntnis der Länge seines Lothseils sehr nützlich.
    John Locke 11
    Das gesamte Gebäude der politischen Theologie gründet sich letztlich auf eine bestimmte Idee, nämlich das Konzept eines göttlichen Bundes zwischen Gott, Mensch und Welt. Mehr als ein Jahrtausend lang war der Lauf der Geschichte der westlichen Welt bestimmt vom christlichen Bild des dreifaltigen Gottes, der über die von ihm geschaffene Welt herrscht und die Menschen durch seine Offenbarung, die den Menschen eingepflanzten inneren Überzeugungen und die natürliche Ordnung lenkt. Es war ein wunderbares Bild, das eine großartige, mächtige Zivilisation hervorgebracht hat. Doch hatte es auch seine inneren Widersprüche, die endlose doktrinale Differenzen über geistliche und politische Fragen nach sich zogen und das geistige und soziale Klima im mittelalterlichen Europa immer intoleranter, dogmatischer, angstbesetzter und gewaltbetonter werden ließen.
    Im späten Mittelalter sahen dann sogar viele Parteigänger der Kirche ein, dass die Korruption in der römischen Kurie und die schändlichen Kriege zwischen christlichen Fürsten Ausdruck einer höchst problematischen Entwicklung waren, die das Christentum genommen hatte. Lange bevor Martin Luther 1517 seine »Fünfundneunzig Thesen« an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg heftete, wurde bereits die Notwendigkeit innerkirchlicher Reformen im Hinblick auf Liturgie, Übersetzung der Schriften, päpstliche Autorität und die Beziehungen zwischen Kirche und Staat debattiert. Doch erst die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts vermochten die Reformer wirklich wachzurütteln, sodass sie sich zum ersten Mal mit der Tiefenstruktur der einzigartigen christlichen Problematik des Verhältnisses von Theologie und Politik auseinandersetzten. Mehr als je zuvor seit der Zeit der Kirchenväter fiel den Menschen auf, wie anders das Christentum war und wie durch und durch neu seine politische Krise. Wer Augen hatte zu sehen, erkannte schnell, dass die Gründe für diese Krise auf der Hand lagen.
    Als die alten Hebräer noch in unabhängigen Königreichen lebten, wurde ihr Leben einzig von der Tora – also vom göttlichen Recht und nicht vom menschlichen – geregelt, ähnlich den mittelalterlichen Gemeinden der Muslime, die den Vorschriften der shari’a unterstanden. Weder bei Juden noch bei

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