Der totgeglaubte Gott
Muslimen konnte es also zu einem Konflikt zwischen »Kirche und Staat« kommen. Doch das Christentum versteht sich nicht als »Gesetzesreligion«, zumindest nicht in diesem Sinne. Zwar gelten auch hier die Zehn Gebote, doch das jüdische Rechtssystem wurde aufgegeben zugunsten der Inspiration des Herzens. Nicht einmal die gewaltige Summa theologiae des Heiligen Thomas mit ihren subtilen Unterscheidungen zwischen göttlichem, ewigem, natürlichem und menschlichem Recht kann als neue Tora gelten, die mit ihren Regeln die Ordnung der menschlichen Gemeinschaft genau festschreibt. Doch das Christentum brach auch mit dem zweiten antiken Vorbild, der Religion der Griechen und Römer. Diese Zivilisationen organisierten sich auf der Grundlage des Naturrechts und ihrer Vorstellungen vom Allgemeinwohl. Die Idee eines offenbarten göttlichen Gesetzes, wie die Bibel sie kannte, war ihnen fremd. Auch in der antiken Zivilisation ist ein Konflikt zwischen Kirche und Staat nicht denkbar, da die zivile Religionsausübung den Gesetzen des Staates unterworfen ist. Das mittelalterliche Christentum setzte auf keines dieser Modelle auf, weder auf das jüdisch-muslimische, noch auf das heidnische. Dies aber war, wie kluge Christen schon damals begriffen, der Punkt, an dem die Spirale der Gewalt ihren Anfang nahm. Christliche Intoleranz und Fanatismus äußerten sich in Gewalt, die Gewalt brachte weltliche und religiöse Führer gegeneinander auf. Je mehr das politische Leben von Fanatismus und Terror beherrscht wurde, desto fanatischer und intoleranter wurden die Christen. Und so glitt das Christentum immer tiefer in den Teufelskreis aus Theologie und Politik, den in dieser Form noch keine Zivilisation zuvor gekannt hatte.
Vielen Denkern war dieses Problem bewusst und so wurden im 16. und 17. Jahrhundert innerhalb der katholischen Kirche, aber auch bei ihren neuen protestantischen Wettbewerbern, verschiedene Reformansätze erprobt. Sowohl innerhalb der Kirche als auch außerhalb gab es Versuche, Frömmigkeit ohne Rituale und Hierarchien zu leben. Neue Bibelschulen wurden eröffnet, unter dem Einfluss der Humanisten wurde das Studium des Griechischen, Lateinischen und Hebräischen gefördert. Man bemühte sich um eine tolerantere theologische Sicht von Differenzen in Glaubensdingen und kulturellen Unterschieden. Dahinter stand die Auffassung, dass kirchliche und politische Reformen das Licht der Aufklärung in die Christenheit hineintragen würden, ohne dabei die grundlegenden Strukturen anzutasten. Noch heute gibt es christliche Theologen, die die Ansicht vertreten, dass die Reformen im Europa der frühen Neuzeit zu einer christlichen Aufklärung geführt hätten, die der weltlichen deutlich überlegen gewesen wäre.
Es muss offenbleiben, ob sie damit recht haben. Denn es trat ein Ereignis – oder genauer gesagt eine Reihe von Ereignissen ein, deren geballte Wirkung der politischen Theologie in Europa ein für alle Mal ein Ende setzte. Und zwar nicht nur in ihrer christlichen Ausprägung, sondern dem Grundprinzip als solchem, auf dem jede politische Theologie aufbaut. Das Christentum als Glaube überlebte, wie auch die Kirche. Aber das christliche politische Denken, das auf einer ganz bestimmten Vorstellung eines göttlichen Bundes beruhte, ging unter. Es wurde abgelöst durch eine neue Herangehensweise an die Politik, die sich allein auf menschliches Recht und menschliche Bedürfnisse gründete. Die Große Trennung setzte ein. Westliche politische Philosophie wurde vom Nachdenken über Kosmologie und Theologie abgekoppelt. Und diese Trennung bleibt bis heute das eindeutigste Wesensmerkmal unserer modernen westlichen Zivilisation.
Bilderstürme
Viele christliche Denker wussten: Die Reibungsflächen, die zur Großen Trennung führten, waren keineswegs in allen Religionen angelegt. Sie waren ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Warum aber, so fragten sie, ist unser politisches Leben an eine bestimmte Auslegung der Heiligen Schrift gebunden? Weshalb sollten Differenzen über den Menschensohn, die göttliche Gnade, Bestimmung, Häresie, die Sakramente, die Existenz des Fegefeuers, die korrekte Übersetzung eines griechischen Substantives – weshalb sollten solche Differenzen den Frieden und die Stabilität einer ansonsten sinnvollen politischen Ordnung stören? Die Antworten, die man auf solche Klagen fand, brachten eine neue Sicht aufs politische Leben hervor. Diese dramatische Entwicklung setzt an verschiedenen Punkten an. Einer
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