Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
in der Jassamine Street höher als ihr eigenes, jedenfalls keines in der Nähe. Vier Dächer weiter war ein Kaminkehrer am Werk; sie sah zwar ihn nicht, aber seine Leiter, seinen Eimer und den Besen, alles einsatzbereit gegen die Mauer gelehnt. Sonst war niemand unterwegs. Hinter dem Schornstein ihres eigenen Hauses, welcher zu ihrem Schlafzimmer gehörte, nahm sie menschliche Gestalt an.
Rasch, rasch …
Sie ließ sich auf den Bauch sinken und kroch mit dem Gesicht voran zur Dachrinne. Dann beugte sie sich, so weit sie konnte, ohne dabei den Halt zu verlieren, über die Kante. Ihr Haar war ein langes, braunes Banner, das unter ihr flatterte, denn sie hatte nichts, um es zurückzubinden. Es wogte und wallte in atemberaubenden Bewegungen.
Ein riesiger, rötlicher Kater, der über den Hinterhof unter ihr spazierte, erschrak und blieb stehen; sein Schwanz bauschte sich, und bösartige, gelbe Augen starrten zu ihr herauf. Sie achtete nicht darauf, sondern ließ mit einer Hand das Dach los und streckte sich so weit wie möglich, in dem Versuch, die oberste Scheibe des Fensters direkt unter ihr zu erreichen.
Aber es war zu weit. Verdammt. Der Kater beobachtete sie, als sie sich weiter über das Dach hinunterschob, ihre Finger jedoch immer noch nur in die Luft griffen.
Als sie kurz davor war, das Gleichgewicht zu verlieren, trat Sidonie aus der Hintertür, eine Sonntagshymne summend
und mit einem Korb voll Kleidung auf dem Arm. Sie schloss die Tür und schlüpfte in die Holzpantinen, die auf der Treppe bereitstanden. Das Kirchenlied brach ab.
»Schhhh! Bist du das, der mir immer Ratten auf die Treppe legt? Ab nach Hause mit dir, du ungezogenes Biest …«
Die Magd ließ den Korb ins Gras plumpsen, und der Kater stürmte davon. Rue versuchte, sich nicht zu bewegen, aber sie hatte sich zu weit vorgebeugt und rutschte vom Dach.
Sidonie hob bei dem Geräusch den Blick, konnte aber nichts sehen als durchscheinenden, aufsteigenden Nebel. Einen Moment lang betrachtete sie ihn stirnrunzelnd, aber Rue schwebte langsam davon, harmlos, keinen weiteren Gedanken wert.
Sidonie griff wieder nach ihrem Korb. Die Wäscheleine war unauffällig zwischen zwei Pfosten seitlich vom Haus gespannt. Rue hörte, wie sie eine neue Hymne zu summen begann, als sie um die Ecke bog.
Rasch schwebte Rue zurück zu ihrem Haus, schätzte den Platz und die nähere Umgebung ab, verharrte einen Augenblick und vollzog dann die Wandlung. Mit der Faust schlug sie das Glas ein und rettete sich nur im allerletzten Moment, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte.
Als Sidonie zurückeilte, war Rue in ihrem Zimmer, hatte den Schnitt an ihrer Hand versorgt, ein Kleid gefunden und sich so schnell angezogen, wie es ihr möglich gewesen war, ohne den Ärmel mit Blut zu beschmutzen.
Sie hörte, wie die Hintertür zugeschlagen wurde und Schritte die Treppe hinaufeilten. Es gelang ihr, den Umhang festzubinden und die Hand hinter ihrem Rücken zu verstecken, als Sidonie auch schon in den Raum platzte.
»Oh! Ma’m. Tut mir leid. Ich …« Atemlos stand sie vor Rue und presste vor Überraschung beide Hände auf ihr Herz. »Ich wusste nicht, dass Sie zurück sind, Ma’am!«
»Ja«, antwortete Rue und versuchte, ebenso überrascht wie ihre Magd auszusehen.
»Ich bin erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und habe mich selbst hineingelassen.«
»Natürlich, Ma’am.« Sie machte einen Knicks und zog sich zurück. »Ich dachte nur … Ich hatte ein Geräusch gehört.«
»Tatsächlich.« Rue warf einen bedeutsamen Blick zum Fenster. Scherben glitzerten auf dem Sims und dem Boden davor wie scharfe, eisige Bruchstücke. »Jemand hat einen Stein geworfen. Ein Kinderstreich vielleicht.«
»Ja, Ma’am.«
Ganz offensichtlich gab es keinen Stein. Rue sah, wie die Magd rasch den Blick über das Bett und den Buchenholzboden huschen ließ, ehe sie ihn wieder Rue zuwandte.
»Holen Sie bitte einen Glaser«, sagte Rue dann und richtete sich auf, um größer zu wirken.
»Aber zunächst brauche ich einige andere Dinge.« Sie machte eine Pause. »Ist Zane da?«
»Nein, Ma’am. Schon seit gestern Mittag nicht mehr.«
»In Ordnung. Dann sagen Sie der Köchin Bescheid. Ich brauche dringend eine Menge zu essen.«
Sie konnte es nicht riskieren, den ganzen Weg bis zum Lagerhaus hinaus eine Kutsche zu nehmen.
Als sie die Pier erreicht hatte, war es schon ein gutes Stück nach Mittag. Die Straßen hier dösten in den Schatten und wurden von hohen, schmucklosen
Weitere Kostenlose Bücher