Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
offensichtlich wie der schwache, warme Duft nach Blumen oder wie lange, schwarze Wimpern. Oder wie dieser weiche, unglaubliche Mund.
Er holte tief Luft und spürte, wie sich seine Lungen vollständig ausdehnten. Diesen Schmerz wollte er ausloten. Er war nie davon ausgegangen, dass sie schüchtern war, nicht auf eine Weise wie Debütantinnen oder gar züchtige, junge Ehefrauen. Er hatte jedoch geglaubt, dass sie alleine sei. Vielleicht war es töricht, doch er hatte seine eigene Einsamkeit auf sie übertragen, eine ihnen beiden gemeinsame Verbindung, die aus seinen Tagträumen entstanden war. Aber seine Rauchdiebin war nicht allein. Vielleicht war sie das nie gewesen. Es gab einen anderen, der wie sie geflogen war, der wie sie gelebt hatte, im Zwielicht, am Rand der Gesellschaft. Das hatte sie sogar dem Rat erzählt. Warum hatte er nie vorher darüber nachgedacht, was das mit einschloss?
»Er hat sich dir nie genähert?«, fragte er und hörte das Misstrauen in seiner eigenen Stimme. »Nicht ein einziges Mal, in all den Jahren?«
»Nein«, sagte sie trocken. »Ich schätze, er glaubt, ich mache mit dem Stamm gemeinsame Sache. Bin vielleicht eine Spionin, die der Rat geschickt hat. Warum sonst sollte ich unbehelligt in London leben?«
»Ihr seid euch demnach also aus dem Weg gegangen.«
»Das war nicht weiter schwierig. Die Stadt hat genug Platz für uns beide geboten.«
Genug Platz. Die beiden, die sorgfältig die Straßen und Gebiete untereinander aufgeteilt hatten, wie die besten Kohorten, die nur an den Grenzen in Kontakt kamen.
»Seine Augen sind blau«, fügte sie beiläufig hinzu und lehnte sich gegen den Bettpfosten. »So blau wie ein Bergsee.«
»Ein Gott, der unter den Menschen wandelt, ganz ohne Zweifel.« Kit schob die Bettdecke beiseite und machte sich nicht die Mühe, sich zu bedecken, als er aus dem mächtigen Eichenbett stieg. Rue rührte sich nicht. Ein besonders heftiger Schwindelanfall überkam ihn, als seine Füße den Boden berührten. Er musste einen Augenblick stehen bleiben, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
Sie richtete sich auf. »Was ist los?«
»Nichts.« Steifbeinig ging er in sein Ankleidezimmer und zog ein Hemd, Strümpfe und sein Rasierzeug samt Streichriemen hervor. Er hatte kein Wasser zum Rasieren, und es gab keinen anderen Ausgang als den hinter ihm. Sie kam rasch zu ihm, ihr Schatten verschmolz mit seinem. Dort stand er und starrte auf das abgewetzte Lederband, während sie zu seinen Füßen kauerte. Er fühlte, wie ihre Finger die Verbände prüften, die er letzte Nacht um seine Wade getragen hatte.
Er wollte, dass sie ihn berührte. Nur deshalb hielt er still
und stellte es sich vor, obwohl er wusste, was sie sehen würde.
»Die Wunde ist entzündet«, sagte sie in scharfem Ton.
»Du kannst sie doch nicht mal sehen.«
»Brauche ich auch nicht. Setz dich. Ich muss die Verbände abmachen.«
Er zog das Hemd über den Kopf und ließ sich in einen Sessel sinken; dann sah er zu, wie sie sich vor ihm auf ein Knie hockte. Da ihre Taille und ihre Brüste verborgen waren und sie ihr Kinn gesenkt hielt, wirkte sie sehr echt in der Rolle, die sie spielen wollte … Wäre da nicht der geflochtene Zopf gewesen, der ihr über die Schulter hing. Im Sonnenlicht leuchtete er herbstlich und rot, und tiefe Brauntöne spielten auf den Strähnen. Sie verlagerte ihr Gewicht auf den Absatz, als sie die gelockerten Verbände in den Händen hielt, und ihr Atem entfuhr ihr zischend.
»Sie ist entzündet«, sagte sie vorwurfsvoll, und ihre Augen blitzten ihn an. »Sieh dir das an. Womit hast du die Wunde ausgewaschen?«
»Wasser. Seife. Du warst dabei.«
»Nun, das hat nicht gereicht.«
»Ich bitte um Entschuldigung. Das nächste Mal, wenn mich ein Krokodil zum Abendbrot verspeisen möchte, werde ich dafür sorgen, dass ich einen Vorrat an Arzneimitteln dabeihabe. Und so sehr mir diese Szene zu meinen Füßen auch gefällt: Du musst keinen Aufwand betreiben. Es ist nicht so schlimm. Ich werde heute Abend trotzdem noch mit dir tanzen können.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Mit mir tanzen?«
»Auf dem Maskenball, meine Liebe. Wir sind eingeladen.«
»Du bist eingeladen, Lord Langford. Ich bin nur ein einfacher
Lakai. Selbst der Comte du Lalonde ist nicht mit einer Einladung der Marlbrokes beehrt worden.«
»Rue«, sagte er, lachte und beugte sich in seinem Sessel vor. »Es handelt sich um einen Maskenball. Die Leute kommen in den närrischsten Kostümen. Sie trinken zu viel
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