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Der träumende Diamant 2 - Erdmagie

Titel: Der träumende Diamant 2 - Erdmagie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shana Abé
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Selbst aus der Ferne verschlang sie den gesamten Blick und hielt das Auge gefangen mit ihren weißen Quarzit-Türmen und Flüssen von Kristallen, die im Laufe der Zeit geschmolzen waren, sodass sie wie Blut von den Mauern rannen. Es schien unmöglich, dass sich die Burg an den Berghang klammern konnte, von etwas gehalten, das Lia nicht zu erkennen vermochte. Vielleicht waren es die Klauen der toten und begrabenen Menschen. Lia spürte sie überall. Aber außer dem fröhlichen Kutscher - und das war
ein Mensch -, der sie abgeholt hatte, war niemand sonst zu sehen. Keine Lakaien, Arbeiter oder Milchmädchen. Die Fenster der Burg glänzten schwarz und leer hinter den Einfassungen, an denen die Eiszapfen hingen. Holzrauch drang aus unsichtbaren Schornsteinen, und Banner flatterten im Wind.
    Falls der Kutscher Französisch, Ungarisch oder Rumänisch sprach, so ließ der Mann es sie nicht wissen. Er grüßte sie mit einem Ausdruck, den Lia nicht verstand, und winkte sie mit großen, ausladenden Gesten in die Kutsche, ohne von seinem Kutschbock zu klettern. Denn Zane hatte zwischen Lia und den Pferden gestanden und den Mann beobachtet. Und als der Kutscher die Bremse angezogen hatte und hinunterspringen wollte, hatte der Dieb die Hand gehoben und ihm bedeutet, sitzen zu bleiben. Stattdessen war er selbst zum Schlag gegangen und hatte ihn geöffnet. Mit einem vielsagenden Nicken hatte er Lia hineingeholfen.
    Sei vorsichtig . Es war nicht nötig, dass er sie warnte. Jede Faser ihres Körpers war angespannt.
    Die Kutsche war in weitaus stärkerem Maße verziert als jene, die der Zigeuner gestohlen hatte. Sie war auch älter, blutrot gestrichen und mit Safrangelb übergebürstet; ausgefranste Troddeln hingen von den Sitzen und den Vorhängen aus Satin. Felle und Kissen, gefüllt mit Gänsefedern, lagen auf den Polstern verstreut, und ein lebendiger kleiner, gelber Singvogel saß in einem Käfig, der an einem Haken von der Decke hing. Der Vogel umklammerte seine Stange mit winzigen Füßen und starrte Lia an, und bei jeder Bewegung schaukelte der Käfig aus Messing.
    Zane hatte die Kissen bereits umgedreht und schien etwas
zu suchen, doch Lia wusste nicht, was. Er hatte den Stauraum unter den Sitzen geprüft, in dem weitere Felle lagen, und mit den Händen über die Wände und die Kirschholzeinfassung gestrichen. Als er sich vergewissert hatte, dass nichts zu finden war, setzte er sich und sah sie stirnrunzelnd an.
    »Keine versteckten Gemeinheiten?«, fragte sie, doch es klang nur bedingt scherzhaft.
    »Noch nicht.«
    Er beugte sich vor und öffnete ein Fenster, um die eisige Luft hereinzulassen. Dann drehte er sich wieder um, machte sich am Verschluss des Vogelkäfigs zu schaffen, öffnete das Türchen und steckte eine Hand hinein. Der Vogel war wie erstarrt.
    Zanes Finger waren schmal und kräftig. Er ließ einen davon über den Rücken des Tieres gleiten und nahm ihn vorsichtig von seinem Sitz. Mit den Armen stützte er sich auf das Sims und öffnete seine gewölbten Hände wie eine Lotusblüte. Der Singvogel flatterte in den Himmel hinauf, ein buttergelber Tupfen, der im Blau rasch kleiner wurde.
    »Na, so werden wir uns gleich Freunde machen«, sagte Lia.
    »Ein unglücklicher Zwischenfall. Der Verschluss hatte sich geöffnet. Das Fenster war heruntergeschoben.« Er hob den Riegel, um die Scheibe wieder zu schließen, und ruckelte, als sie sich verklemmt hatte. »Es ist nicht meine Schuld, dass sie sich nicht die Mühe gemacht haben, seine Flügel zu beschneiden.«
    »Du weißt, dass der Vogel draußen nicht überleben wird.«
    »Ja, das weiß ich.« Er sah in den Himmel, aber vielleicht
blickte er auch dem Tier hinterher, das konnte Lia von ihrem Platz aus nicht erkennen. »Aber ich würde lieber sterben, als hier eingesperrt zu sein. Und was ist mit dir?«
    Sie erinnerte sich an einen anderen Vogel zu einer anderen Zeit, im dunklen Wald, während ihre Brüder und Schwestern sie umringten. Sie entsann sich ihrer Angst und Entschlossenheit und des zarten Lebens, das in ihren Händen ein Ende gefunden hatte.
    Lia beugte den Kopf, um ihr Gesicht zu verstecken, und zog sich ein weiteres Fell über die Knie. »Wenn ich die letzten Wochen in Betracht ziehe, würde ich lieber nicht darüber nachgrübeln.«
    »Nur ein Narr denkt nicht über seine Möglichkeiten nach. Es ist besser, vorbereitet zu sein.«
    »Und wir waren ja auch so gut auf all das hier vorbereitet, nicht wahr?«
    »Verzeih mir, dass ich das sagen muss, aber es

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