Der träumende Diamant 2 - Erdmagie
sauberem Elfenbein. Einige der Flure jedoch, durch die sie kamen, waren unverputzt und bestanden nur aus den kahlen Steinen des Burggemäuers. Zwischen den Quarzitblöcken glänzten kalte, durchsichtige Klumpen, weder poliert noch geschliffen: kleinere Steine, die im Mörtel steckten.
Es waren Diamanten, jeder einzelne von ihnen. Lia ließ die Fingerspitzen über die unebene Oberfläche gleiten. Wenn Zane sie nicht so fest am Ellbogen gepackt hätte, hätte sie vom Boden abgehoben.
Gott, was für ein Ort!
»Mylady«, hörte sie Zane sagen, und sie begriff, dass die Unterhaltung zwischen ihm und dem Prinzen verstummt war. Die anderen, die sie umringten, traten näher. Der Dieb warf ihr einen durchdringenden Blick zu.
»Was würdest du vorziehen?«
Sie ließ ihre Hand sinken und versuchte, ihre Gedanken wieder zum Gegenstand des Gesprächs zurückzulenken.
»Tee, glaube ich«, entschied der Prinz. »Die Engländerinnen lieben Tee, das weiß ich. Erst einmal Tee, und dann können Sie sich ausruhen. Und heute Abend können Sie mir all Ihre Geschichten erzählen.«
Lia knickste noch einmal. Zane lächelte und nickte, aber sie sah, wie sein Blick kühl und blass auf ihr ruhte.
Sie nahmen ihren Tee allein in den Zimmern ein, die der Prinz ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Schweigend saßen sie in zwei silbergestreiften Ohrensesseln vor dem Feuer. Ihre Koffer wurden von zwei menschlichen Lakaien hereingetragen, der Tee von menschlichen Zimmermädchen serviert. Auch hinter diesen Wänden, im Verborgenen, befanden sich Diamanten. Lia saß dort und hatte den Blick auf ihre gefalteten Hände gerichtet, während die Lieder der Steine sie einhüllten; sie roch heißes Zuckerwerk und Gewürznelken, und ihre Zehen in den Schuhen verkrampften sich.
Zane reichte ihr eine Schale Tee. Irgendwo in den Tiefen der Burg spielte jemand Harfe. Die Melodie verwob sich mit der der Steine - mit ihrem gelben Saphir -, wurde lauter und ebbte wieder ab, klagend und zart.
Und hinter der linken Mauer, verstohlen wie Mäuse, waren der Prinz und vier Andere . Sie brauchte keine besonderen Gaben, um zu wissen, dass sie dort waren. Es war ein Kinderspiel, ihre Gerüche aufzunehmen, ihre Herzen durch die Täfelung und das Quarzitgestein hindurch schlagen zu hören, und sie konnte sich nicht vorstellen, warum einem Drákon -Mann das nicht klar sein sollte. Aber vielleicht war er sich dessen bewusst. Vielleicht war es eine Art Test, um zu sehen, was sie tun würden.
Lia nahm den Tee entgegen. Sie suchte Zanes Blick und hob das Kinn zur Wand; er antwortete mit einem deutlichen Nicken. Er war derjenige gewesen, der die Lauschlöcher, welche durch die Blumen der Tapete gebohrt waren, auf den ersten schnellen, beiläufigen Blick bemerkt hatte, als man sie allein gelassen hatte.
»Frisch gebrüht«, sagte er auf Englisch, als er seinen Tee probierte.
Er war ausgezeichnet, das war Lia klar. Alles war ausgezeichnet, der Tee, das Vanillegebäck und die in Sirup getauchten Kekse, die mit gehackten Mandeln bestreut waren. Sie aß, als hätte sie seit Wochen, und nicht erst seit Tagen, keine Nahrung mehr zu sich genommen. Als ihr Teller leer war, kamen die Diener mit einem neuen. Auf diesem türmten sich gebratene Pasteten mit saurer Sahne und Äpfel, die mit echten Goldflocken bestäubt waren.
Lia trank ihren Tee und lauschte auf die Harfe, die Diamanten und die leisen Geräusche vom Drachenprinzen, wenn er sich bewegte. Sie drehte den Kopf und blickte durchs Fenster hinaus in den Himmel, der von einem türkisblauen Sonnenuntergang langsam dämmrig wurde.
Zane hatte bereits in seinem Koffer nach seinen Waffen gesucht und sie alle unversehrt vorgefunden.
Lia hatte von nichts dergleichen geträumt. Sie wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde.
Das große Zimmer war riesig. Hier wurden die uralten Wurzeln der Burg offensichtlich, denn der Raum war lang und schmal, mit Schießscharten hoch oben, durch die die Abenddämmerung in dünnen, blauen Strahlen hereinfiel. Kohlebecken und Kandelaber spiegelten sich auf den mittelalterlichen Schilden mit farbigen Wappen, die an den Wänden hingen.
Drachen wanden sich auf den Schilden. Mondsicheln. Sechszackige Sterne.
Der Tisch, an dem sie speisten, war neu, modern und aus Mahagoni. Das Geschirr war aus Porzellan, mit vergoldetem Rand und Pfauen und Tauben, die in vollkommenem Ebenmaß jedes Stück zierten. Der Tisch war für vier Personen
gedeckt, obwohl sich außer dem Prinzen und ihnen beiden
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