Der träumende Diamant 3 - Drachenmagie
scharfsinniger, praktischer Mann, der mehr als einmal zuverlässig die extremeren Vorschläge der anderen Ratsmitglieder gezügelt hatte. Aber heute begann seine Maske zu bröckeln. Unter der eisengrauen Perücke blitzte zerzaustes Haar hervor, und auf seinen Wangen wuchsen Bartstoppeln. Wie jeder andere hier war er seit Mitte der letzten Nacht auf. Und wie jeder andere hatte auch er einen Blick auf die davonfliegende Prinzessin erhascht.
Zwar nur für wenige Augenblicke, in denen sich ihre Silhouette vor der Himmelswölbung abgezeichnet hatte, ihre bemerkenswerten Augen, ihre raffinierten Drehungen und engen Wendungen. Es war eine Sache, in einem Brief zu lesen, dass irgendwo eine Frau existierte, die in der Lage war, die Wandlung zu vollziehen. Aber es war etwas ganz Anderes, sie im wirklichen Leben zu sehen, zu fühlen: Ihre Sinnlichkeit und ihre schwarz glitzernde Pracht, geschmeidig und vollkommen weiblich.
Weiblich.
Ja. Und Kimber wusste, dass jeder andere Mann genau das bemerkt hatte.
Was er letzte Nacht zu Maricara gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Sie waren keine Wölfe. Sie glichen in nichts den niedrigeren Tieren, nicht einmal den Menschen. Sie hatten ihre eigene Meute, der Stamm bestand aus einer fein gewirkten Gemeinschaft von Familien, die untereinander heirateten, Kinder aufzogen und selten über die Grenzen der Grafschaft schauten, um sich Gefährten zu suchen. Das geschah zwar manchmal - bei Kimbers eigenem Großvater mütterlicherseits hatte es sich um einen Waliser gehandelt, dessen Erbe immer noch in Rhys’ dunklem Haar und in Audreys schokoladenfarbenen Augen sichtbar war. Aber es gab strenge Strafen für solche Überschreitungen, nicht zuletzt soziale Isolation. Seine Großmutter war als Witwe gestorben, allein. Es war besser, sich an die eigene Art zu halten.
Die Drákon suchten sich ihre Gefährten fürs ganze Leben. Das war unter ihnen eine einfache Tatsache. Ein männlicher, ein weiblicher Drache, die neue Generationen hervorbrachten, um das Fortbestehen der Grafschaft zu sichern. Die Brautwerbung folgte dann wiederum einem eher menschlichen Weg, das stimmte, mit einem nicht geringen Anteil an Nachsicht für die jungen Liebenden. Im Dorf gab es jede Menge Spiele von Verliebten, Tränen und gebrochene Herzen - Jungfern, die Jünglinge liebten, Jünglinge, die andere Mädchen mochten -, ein endloser Kreis von Stelldichein und Prüfungen. Der Himmel wusste, dass er selbst als junger Mann viel Zeit damit verbracht hatte, die besten Verstecke in den Wäldern zu erkunden. Das Hochzeitsversprechen setzte all dem ein Ende. Sobald sich die Lippen von Mann und Frau in dem kühlen Marmorheiligtum der Kapelle von
Darkfrith berührten, waren sie fürs Leben aneinander gebunden. Treue war ihnen in die Herzen geätzt, und zwar so hell und unleugbar wie der goldene Schein der Sonne.
So jung sie auch sein mochte, war Maricara doch Witwe. Aber bei der Hölle - es bestand nicht die geringste Chance, dass sie das lange bleiben würde, ganz gleichgültig, wohin sie flog.
Man hatte sie mit ihm verlobt, als sie noch in den Kinderschuhen steckte. Es machte nichts aus, dass sie davon nichts wusste, es reichte, dass Kimber dies tat, außerdem der Rat und alle Mitglieder des Stammes. Alpha heiratete Alpha. Die Tatsache, dass die Prinzessin über die Gaben verfügte, beförderte sie in diese Position, ganz unabhängig von ihrem Hintergrund.
Einst war jeder einzelne Drákon in die Fähigkeiten hineingewachsen. Einst waren sowohl Männer wie auch Frauen nach dem Erreichen der Pubertät geflogen. Aber unerklärlicherweise kamen die Gaben von Generation zu Generation immer seltener vor. Nicht ein weiblicher Drákon war mit der Gabe der Wandlung geboren worden, seit - nun, seit Jahren.
Und wie Kimber war auch Rhys mit den einzigen vier Mädchen direkt verwandt, die sich verwandeln konnten.
Kimber senkte die Wimpern und betrachtete seinen Bruder. Rhys bemerkte dies; sein Blick schoss zu Kimber und dann zurück zu dem Mann ihm gegenüber. Er beugte sich in seinem Sessel vor und legte die Hände locker ineinandergeschlungen auf den Tisch. Als er dann sprach, lag eine gewisse Schärfe in seiner Stimme, die Kimber vorher nicht bemerkt hatte.
»Ihr gelang es, an Ihnen vorbeizuschlüpfen, Rufus, trotz der Patrouille. Sie verwandelte sich trotz all Ihrer eindrucksvollen
Verteidigungen und drang so leicht in Chasen Manor ein, als handele es sich um ein öffentliches Kaffeehaus. Und trotz aller Maßnahmen verspürte
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