Der träumende Diamant 3 - Drachenmagie
Schwarz. Ihnen blieb nur übrig, die Dämmerung zu jagen.
Normalerweise blieben die Fenster in allen Zimmern des Rates fest versiegelt. Der Raum ging nach Norden und war
dunkler als die meisten Zimmer des Herrenhauses, aber die Kerzen in den Leuchtern, die über ihnen brannten, verbannten die Schatten aus den Ecken. Bei Ratsversammlungen handelte es sich um förmliche Angelegenheiten mit Perücken, Krawatten und langen Umhängen. Es herrschte eine verfluchte Hitze.
Die Tradition der Geheimhaltung wog schwer gegen Kimbers Verlangen nach frischer Luft. Nach vierzig schier endlosen Minuten des Leidens verließ er seinen Sessel und öffnete jedes einzelne Fenster. Keiner wagte es, Protest einzulegen. Sie alle waren des Schwitzens überdrüssig.
Abgesehen davon würde nur sehr wenig von dem, was als Nächstes geschah, lange geheim bleiben. Der Rat wusste von der Prinzessin, außerdem das ganze Dorf. Die halbe Bevölkerung der Grafschaft war Zeuge ihres Fluges am frühen Morgen gewesen. Jeder erwartete irgendwelche Maßnahmen.
Im harten Licht des Mittags fiel es ihm schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie in der Nacht vor ihm gestanden hatte, sich ihr Gesicht und ihre Figur vorzustellen. Er erinnerte sich daran, dass sie wunderschön war, und er wusste noch, wie schwer ihm das Atmen angesichts ihrer Schönheit gefallen war. Aber im Vordergrund seiner Erinnerung standen hellere, weniger typische Eindrücke: Wie ihre Haut im Mondlicht schimmerte. Wie sich ihr Haar um die Schultern teilte. Der rauchig-süße Klang ihrer Stimme. Ihr Duft, ein Parfüm aus Blumen und Schießpulver und Sommerhitze.
Kimber sank in seinen Sessel zurück und tappte träge mit den Fingern auf einen Schenkel. Er hörte dem Rat nur mit halbem Ohr zu, während er, in seine Erinnerungen versunken, aus dem nächstgelegenen Fenster starrte. Der Tag zeigte von der Sonne ausgewaschene, wie gebleicht wirkende
blasse Farben … aber er sah einen mitternachtsfarbenen schlanken Drachen vor sich mit silbernen Augen und zarten Flügeln, der mit erhabener, tollkühner Unbekümmertheit nach der Unendlichkeit des Kosmos griff.
Seine Leute waren so zurückhaltend beim Fliegen. Selbst bei der Jagd oder wenn sie aus reiner Freude nach oben schossen, blieb jede ihrer Bewegungen beherrscht, gezügelt und überlegt. Maricaras Flug zu beobachten war so, als habe er einem von der Leine befreiten Kinderdrachen zugesehen. Er hatte nie so richtig erkannt, wie kontrolliert sie alle waren, bis er sie erblickt hatte.
Sie flog ohne jede Furcht. Sie flog mit etwas, das beinahe Verzweiflung glich. Etwas ähnlich Faszinierendes hatte er noch nie im Leben zu Gesicht bekommen.
Vielleicht hatte sie ihn ja auch nur verspottet. Er konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, weshalb sie nach ihrem Treffen in den Himmel geschossen war. Sie musste gewusst haben, dass er jeden Mann in der Grafschaft Himmel und Erde nach ihr durchkämmen lassen würde.
»… und können nicht mehr als zwanzig, dreißig Männer sein«, sagte einer der Ratsherren gerade. »Denn wo sollten sie sein? Offenkundig halten sie sich nicht in der Nähe von Darkfrith auf. So viele hätten wir gespürt. Wir hätten sogar einen einzigen gespürt, wenn sie sich so dicht bei der Grafschaft versteckt hätten.«
»Sie haben wir auch nicht gespürt«, forderte Rhys den Sprecher heraus, woraufhin allgemeines Gemurmel laut wurde. Kimber richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Versammlung. Zusätzlich zu der zum Schneiden dicken Luft wurde es außerdem noch immer heißer.
Im Raum standen vier rechteckige Tische, die man in der Mitte zu einem Quadrat zusammengestellt hatte. Der Schreiber
und alle zwölf Ratsmitglieder saßen einander gegenüber, und Kimbers größerer und ein wenig üppiger geschmückter Sessel befand sich seitlich an der leeren Westmauer, von wo aus er sie alle sehen konnte. Sein Vater, der erste Marquis von Darkfrith, hatte das Arrangement so entworfen, dass es eine genau berechnete Botschaft übermittelte: Hier handelte es sich nicht um Artus und seine Tafelrunde. Die Ratsmitglieder verabschiedeten Gesetze zum Wohl des Stammes, und der Alpha würde sich diesen Gesetzen unterwerfen, solange ihm das zupasskam - aber letzten Endes blieb er der Herrscher, allein und von den anderen getrennt.
Immer getrennt.
Als zweiter Sohn des Grafen war Rhys in seine Stellung im Rat hineingeboren worden, und meistens war Kimber froh darüber. Hinter der lässigen Fassade seines Bruders verbarg sich ein
Weitere Kostenlose Bücher