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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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das Paket unterm Arm und warm beschienen vom Licht des Ruhms, das vom Professor auf ihn abstrahlte, da fühlte er sich auf einmal ganz stolz und leicht.
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Professor?«
    »Kommt auf die Frage an.«
    »Stimmt es, dass Sie den Leuten ihre Schädel wieder gerade richten können? Und ihnen hernach beibringen, wie ein ordentliches Leben ausschaut?«
    Freud nahm seinen Hut erneut ab, legte sich sorgfältig eine dünne, schneeweiße Strähne hinters Ohr, setzte den Hut wieder auf und sah Franz von der Seite an.
    »Erzählt man sich das in der Trafik oder bei dir zuhause im Salzkammergut?«
    »Weiß nicht«, sagte Franz und zuckte mit den Schultern.
    »Wir rücken überhaupt nichts gerade. Aber wenigstens renken wir auch nichts aus, und das ist in den heutigen Ordinationen gar nicht so selbstredend. Wir können gewisse Verirrungen erklären, und in manchen eingebungsvollen Stunden können wir das, was wir gerade eben erklärt haben, sogar beeinflussen. Das ist alles«, presste Freud hervor, und es hörte sich an, als ob ihm jedes einzelne Wort Schmerzen bereiten würde. »Aber auch das ist nicht wirklich sicher«, fügte er mit einem kleinen Seufzer hinzu.
    »Und wie stellen Sie das alles an?«
    »Die Menschen legen sich auf meine Couch und beginnen zu reden.«
    »Das klingt gemütlich.«
    »Die Wahrheit ist selten gemütlich«, widersprach Freud und hüstelte in das dunkelblaue Stofftaschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
    »Hm«, sagte Franz, »darüber muss ich nachdenken.« Er blieb stehen, blickte schräg nach oben und versuchte seine wild durcheinanderspringenden Gedanken auf einen Punkt weit über den Dächern der Stadt und seiner eignen Vorstellungskraft zu sammeln.
    »Und?«, fragte der Professor, nachdem ihn dieser merkwürdige, ein wenig aufdringliche Trafikantenbub wieder eingeholt hatte. »Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
    »Erst einmal zu gar keinem. Aber das macht nichts. Ich werde mir Zeit nehmen, um noch länger darüber nachzudenken. Außerdem werde ich mir Ihre Bücher kaufen und sie lesen. Und zwar alle und von vorne bis hinten!«
    Zum wiederholten Male seufzte Freud. Eigentlich konnte er sich überhaupt nicht entsinnen, jemals in so kurzer Zeit so oft geseufzt zu haben.
    »Hast du nichts Besseres zu tun, als die angestaubten Schinken alter Herren zu lesen?«, fragte er.
    »Was zum Beispiel, Herr Professor?«
    »Das fragst du mich? Du bist jung. Geh an die frische Luft. Mach einen Ausflug. Amüsier dich. Such dir ein Mädchen.«
    Franz sah ihn mit großen Augen an. Ein Zittern lief ihm durch den ganzen Körper. Ja, dachte er, ja, ja, ja! Und im nächsten Moment brach es aus ihm heraus: »Ein Mädchen!«, rief er derart gellend, dass die drei alten Damen, die sich auf der anderen Straßenseite eben erst zu einer kurzen Gassentratscherei zusammengerottet hatten, verschreckt ihre kunstvoll ondulierten Köpfe nach ihnen umdrehten. »Ja, wenn das so einfach wäre …!«
    Endlich hatte er das ausgesprochen, was ihm schon seit langer Zeit, im Grunde genommen schon seit dem Tag, an dem seine ersten Schamhaare zaghaft zu sprießen begonnen hatten, sowohl das Hirn als auch das Herz umrührte.
    »Bislang haben das noch die allermeisten geschafft«, meinte Freud und bugsierte mit seinem Gehstock zielsicher einen Kiesel vom Trottoir.
    »Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es schaffen werde!«
    »Und warum ausgerechnet du nicht?«
    »Da, wo ich herkomme, verstehen die Leute vielleicht was von der Holzwirtschaft und davon, wie man den Sommerfrischlern ihr Geld aus den Taschen zieht. Von der Liebe verstehen sie rein gar nichts!«
    »Das ist nichts Außergewöhnliches. Von der Liebe versteht nämlich niemand irgendetwas.«
    »Nicht einmal Sie?«
    »Gerade ich nicht!«
    »Aber warum verlieben sich dann alle Leute ständig und überall?«
    »Junger Mann«, sagte Freud und hielt an. »Man muss das Wasser nicht verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!«
    »Ach!«, sagte Franz in Ermangelung passenderer Worte, die die unermessliche Tiefe seines Unglücks zum Ausdruck bringen könnten. Und gleich noch einmal hinterher: »Ach!«
    »Wie dem auch sei«, sagte Freud. »Wir sind angekommen. Darf ich um meine Zigarren und meine Zeitung bitten?«
    »Aber natürlich, Herr Professor!«, sagte Franz mit hängendem Kopf und reichte ihm das Paket. BERGGASSE NR.  19 stand auf dem Schildchen über dem Hauseingang. Freud nestelte einen Schlüsselbund hervor, sperrte

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