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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Sekunde, die Franz brauchte, um zu verstehen, dass er vor einer Schaukel stand. Eine riesige Schaukel, deren Gondeln wie Schiffe auf hoher See hinauf und hinunter schwangen. Auf einem Holzschild über dem Eingang war in ausladender Pinselschrift geschrieben: DAS GEWALTIGE STURMBOOT! HÖCHST AMÜSANT! FÜR GROSS UND KLEIN! ALLES ERFREUT SICH! ALLES LACHT! BITTE STEIGEN SIE EIN! Franz beschloss, sich nicht mehr zu rühren. Regungslos, den Blick immer auf das auf und ab sausende Mädchengesicht geheftet, wartete er, bis die Schiffsgondeln ausgependelt hatten und die Fahrgäste lachend und quietschend herausgetaumelt kamen. Als ihm das Mädchen (flankiert von zwei Freundinnen, die er allerdings nur als gestalt-, gesichts- und belanglose Schatten wahrnahm) schließlich entgegenkam, zwang er sich mit aller Kraft aus seiner selbstgewählten Erstarrung, ballte die Fäuste in den Hosentaschen und stellte sich ihr mit einer Entschlossenheit in den Weg, die plötzlich aus seinen unerforschten Tiefen hervorflammte und seinen Worten einen, wie ihm in diesem Moment vorkam, geradezu leuchtenden Nachdruck verlieh: »Guten Tag, ich heiße Franz Huchel, komme ursprünglich aus dem Salzkammergut und möchte mit Ihnen Riesenrad fahren!«
    Interessanterweise fiel das Mädchen nicht in das Gelächter ihrer Begleiterinnen ein, sondern betrachtete ihn eine Weile wie eine Zoobesucherin ein vom Aussterben bedrohtes Tier, blieb schließlich mit ihrem Blick an seinen flackernden Augen hängen, aus denen sich die Entschlossenheit längst schon wieder verabschiedet hatte, und sagte: »Riesenrad nicht, aber schießen möcht ich, bitteschön!«
    Genau genommen sagte sie nicht »möcht ich, bitteschön«, sondern »mecht ich, bittascheen«. Es war die leicht erkennbare Unfähigkeit der vielen in Wien ansässigen Böhmen, Umlaute auszusprechen. Eine Böhmin also, dachte Franz, ohne aus diesem Gedanken allerdings einen irgendwie brauchbaren Nutzen ziehen zu können, und bot ihr stumm seinen Arm an, um sie zur großen Schießbude zu geleiten. Erfreulicherweise verabschiedeten sich ihre beiden Freundinnen sofort, nur um sich gleich darauf an die breiten, mit beeindruckenden Reihen bunter Orden dekorierten Schultern zweier ziemlich bierseliger Bundesheeroffiziere zu hängen.
    An der Schießbude erklärte ein Mann mit vernarbter Halbglatze und stumpfem Blick die Regeln: Man konnte wahlweise auf Zielscheiben, Luftballons oder auf bunte Türkenköpfe zielen. Schoss man einem der Türken ein Loch ins Gesicht, gab es ein paar Punkte mehr, traf man ihn an einer bestimmten Stelle auf der Stirn, klappte mit einem hölzernen Geräusch sein Turban nach vorne und man bekam eine Freirunde. Zu gewinnen gab es Zuckerstangen, Papierrosen und echte Lavendelsträußchen. Aus den Augenwinkeln sah Franz, wie sich das böhmische Mädchen vorbeugte, das Gewehr an die Wange legte und den Finger über dem Abzug krümmte. Es war ein kurzer Finger, rosig und rund. Überhaupt war alles rund an ihr: die kleinen Ohren, die Nase, die gewölbte Stirn, die geschwungenen Augenbrauen, die großen, braunen Augen. Ihr Blick war ruhig auf die schwarze Mitte der Zielscheibe gerichtet. Er wäre gerne in diesen Blick, in diese Augen eingetaucht, ein Kopfsprung mitten hinein in die Glückseligkeit. Er musste an das hölzerne Regenfass, zuhause, gleich neben dem Hütteneingang, denken. Das Wasser darin war anders als das Wasser im See. Es war bräunlich und trüb, außerdem roch es ein bisschen komisch. Einmal hatte der kleine Franz es nicht mehr ausgehalten, aus Neugier, und weil es so heiß war, mitten im August, zum Ende der Sommerferien. Sorgfältig hatte er jeden einzelnen der dünnbeinigen Wasserläufer von der Oberfläche geschnipst, dreimal tief Luft geholt und schließlich seinen Kopf mitsamt dem halben Oberkörper in die Tonne getaucht. Drinnen war es angenehm kühl. Im Wasser schwebten winzige Teilchen wie dunkler Schnee, und der Boden war bedeckt von einer dicken, schon halb vermoderten Laubschicht. Er streckte seine Arme aus und wühlte mit den Fingern in der Blättermasse. Es fühlte sich grauslig an. Schmierig und kalt, aber irgendwie auch schön. Ein kleiner Schauder durchlief ihn, als er mit den Fingerspitzen auf etwas Weiches, Pralles, Haariges stieß. Hinter dem dichten Schleier der Schwebeteilchen tauchte der Körper einer toten Ratte auf. Sie musste erst vor Kurzem in die Tonne gerutscht sein und hatte es wohl nicht mehr aus eigener Kraft geschafft, die bemooste Wand

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