Der Trafikant / ebook (German Edition)
auf und lehnte seinen schmächtigen Körper gegen das schwere Holztor.
»Darf ich Ihnen …«
»Nein, du darfst nicht«, knurrte der Professor, während er sich schnell durch den Türspalt ins Innere drängte.
»Und denk daran«, schob er hinterher und reckte seinen Kopf noch einmal ins Freie. »Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss. Ich wünsche einen angenehmen Tag!« Damit verschwand er im Dunkel des Hausflurs. Mit einem leisen Knarren schloss sich das Tor, und Franz stand alleine im Wind.
(Karte mit frühlingshaft erblühtem Stadtpark und fliedergeschmücktem Fiaker im Vordergrund)
Liebe Mutter,
stell Dir vor, wen ich gestern kennengelernt habe: den Herrn Professor Dr. Sigmund Freud! Hast Du gewusst, dass er ein Jud ist? Und gleich bei der Trafik ums Eck wohnt? Ich habe ihn begleitet, und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Sehr interessant! Ich glaube, wir werden uns jetzt öfters sehen. Wie geht es Dir? Mir geht es gut,
Dein Franz
(Karte mit vom goldenen Morgenlicht übergossenen Attersee und Schwänen)
Mein lieber Franzl,
das mit dem Professor Freud ist natürlich ein Blödsinn, oder? Wenn es aber kein Blödsinn sein sollte, frag ihn bitte einmal, ob das alles stimmt, was man so hört. Das mit den Trieben und den ganzen anderen Sachen. Oder nein, frag lieber doch nicht, wer weiß, was das für einen Eindruck macht. Dass er ein Jud ist, habe ich nicht gewusst. Das ist vielleicht nicht angenehm, aber man muss halt schauen. Bei uns hat es schon einmal geschneit. Heute geh ich in den Wald und hack mir einen Korb Holz. Ich hab Dich lieb,
Deine Mama
Die Worte des Professors hatten sich tief in Franz’ Seele eingebrannt. Insbesondere jene, bei denen es um Mädchen ging. Bislang haben das noch die meisten geschafft, hatte er gesagt. Und entgegen aller Zweifel, die Franz in dieser Beziehung hegte, hatte sich das gar nicht schlecht angehört, irgendwie zuversichtlich und unumstößlich. Überhaupt hatte die ganze professorale Erscheinung trotz ihrer altersgebrechlichen Bröckeligkeit auch etwas felsenhaft Unverrückbares. Na also gut, dachte Franz, wenn das so ist, wird man die Sache jetzt eben angehen müssen!
Und so schlüpfte er schon am nächsten Samstag, kurz bevor ihn die Trafik mit einem letzten, aufmunternden Geklingel ins Wochenende entließ, in seinen Sonntagsanzug, wusch sich sein Gesicht, den Hals und die Hände mit einem extra für diesen Anlass teuer erstandenen Stück Kernseife, schmierte sich einen Batzen Schweineschmalz in die Haare und zerrieb die Blütenblätter einiger prächtiger Königsrosen unter seinen Achseln, die er auf einem nächtlichen Streifzug aus den um die Votivkirche akkurat angelegten Beeten gepflückt hatte. Alsdann trat er glänzend und duftend auf die Straße, wo das milde Herbstlicht das Pflaster wärmte, und bestieg die Straßenbahn in Richtung Wiener Prater, um dort sein Glück in Gestalt eines passenden Mädchens zu finden.
Schon von Weitem konnte er das Riesenrad sehen, aber erst als er direkt darunter stand, konnte er die wahren Ausmaße dieses wunderlichen, stählernen Ungetüms ermessen. Das Riesenrad war nicht einfach nur groß, es war gigantisch. Die Wolken schienen kaum höher als der höchste Stahlträger zu hängen. Die Fahrgäste in den obersten Gondeln waren klein wie Insekten, und ihre Arme und Schals waren nur noch als winkende oder flatternde Winzigkeiten zu erkennen.
Im Gasthaus Zum eisernen Mann kaufte er sich ein Seidel Bier. Das Bier war kalt und spritzig, und als er sachte hineinblies, flog der Schaum in schneeweißen Wölkchen auf. Im Schankraum befand sich, außer einer ältlichen Bedienung mit tiefliegenden, traurigen Augen, keine einzige Frau. Also zahlte er und machte sich auf den Weg zum Spiegelkabinett. Ziemlich lange lief er in dem gläsernen Irrgarten herum, ohne den Ausgang zu finden, bis ihm schließlich ein Mann in kurzen Hosen den Weg ins Freie wies. Eine Weile stand er dann vor dem Aeroplankarussell und betrachtete so lange die im Kreis herumsausenden Flugzeuggondeln, bis ihm ein bisschen schwindlig wurde und er ins Gasthaus Zum Walfisch hinüberging und sich im Garten einen Einspänner bestellte. Der Kaffee war tiefschwarz, und das Schlagobers schmeckte fast so süß wie im Café Esplanade in Bad Ischl. Die großen Kastanien rauschten leise, zwischen den Blättern blitzte die Sonne hindurch, und im Kies hüpften die Spatzen. An den Tischen saßen Menschen, die
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