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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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das Vergnügen augenscheinlich längst schon gefunden hatten. Überall freundliche, offene Gesichter. Ein Stimmengewirr, das sich wie ein unsichtbarer Vogelschwarm im Garten verteilt hatte und aus dem hin und wieder ein einzelnes, helles Lachen herausflatterte. Diese ganze Fröhlichkeit legte sich Franz ein bisschen bitter aufs Gemüt. Er zahlte und ging zum Ponykarussell hinüber. Mit schweren Köpfen trotteten die Tiere im Kreis und trugen Kinder herum. Ein Mann mit einem riesigen Fotoapparat knipste Bilder, um sie später den Eltern zu verkaufen. Es wurde viel gelacht, umarmt und geküsst. Die jungen Mütter waren fast noch schöner als ihre Kinder, die jungen Väter standen stolz und aufrecht da und gaben Trinkgeld. Eines der Ponys hob mit einem Schnaufer den Schwanz und ließ ein paar Äpfel in den Sand plumpsen. In seinen Augen spiegelten sich der blaue Herbsthimmel und dahinter die Ahnung einer Freiheit jenseits aller Kinderhintern und Karusselle. Am benachbarten Stand kaufte Franz zwei fetttriefende, ungarische Fleischlaibchen und, um den penetranten Knoblauchgeschmack auszugleichen, eine riesige rosarote Zuckerwattenwolke. Das Übelkeitsgefühl, das ihn gleich danach überkam, spülte er mit einem weiteren Seidel Bier hinunter und ging zur Märchengrottenbahn, wo er sich als einziger Erwachsener in eines der hellblauen Wägelchen zwängte. Leicht ruckelnd ging die Fahrt durch eine von einer dicken Staubschicht bedeckten Fantasielandschaft. Überall standen, saßen oder gingen Märchenfiguren herum. Rotkäppchen stapfte durch den Wald, der Froschkönig hockte auf dem Brunnenrand, Rumpelstilzchen hüpfte ums Feuer und gleich dahinter ließ Rapunzel ihre Hanfhaare aus dem Turmfenster in die Tiefe. Franz dachte an zuhause. Früher hatte ihm die Mutter diese Geschichten aus einem abgegriffenen Buch vorgelesen. Er selbst war damals noch so klein, dass er sich bequem in ihrem Schoß zusammenrollen und den Worten lauschen konnte, die wie weiche, warme Tropfen auf ihn herunterfielen. Als Franz langsam am Aschenputtel vorbeiruckelte, kamen ihm die ersten Tränen, und bei der Fahrt um das Lebkuchenhaus schluchzte er bereits in seine offenen Hände hinein. Eine heiße Welle nach der anderen stieg in ihm auf und schüttelte ihn durch. Er dachte an die Hütte, an den Herd, an den See, an die Mutter, und hinter dem dichten Schleier seiner Tränen zog die Märchenlandschaft in einem einzigen verschwommenen Farbenstrom vorüber.
    Als der junge Fahrgeschäftsgehilfe, der mit schläfriger Lässigkeit am Ausgang lehnte, sah, wie Franz zusammengekrümmt und mit tränennassem Gesicht aus der Grottendüsternis ins helle Sonnenlicht geruckelt kam, schnippte er im hohen Bogen seine Selbstgedrehte weg und raffte sein ganzes tröstendes Feingefühl zusammen: »Das Leben ist halt kein Märchen, Freunderl – aber irgendwann ist sowieso alles vorbei!«
    Draußen rieb sich Franz ein paar Mal mit dem Ärmel übers Gesicht und schnäuzte sich in das Taschentuch, das er eigentlich nur zu dem Zweck dabei hatte, einem eventuell in Erscheinung tretenden Mädchen ihren Stuhl oder ihre heiße Stirn oder sonst irgendwas abzuwischen. Langsam ging er an den Fahrgeschäften vorüber, an Schießbuden und Fressständen, am Autodrom, am Watschenmann, an der Dicken Berta, am bunten Freudenrad und an der Großen Geisterbahn. Irgendwo tief in seinem Inneren plätscherte es noch einmal leise, eine letzte kleine Welle der Traurigkeit, dann war es vorbei.
    Doch gerade, als er mit dem festen Entschluss, den Rest des Nachmittags in großen Mengen von Bier und anderen Getränken zu versenken, den schattigen Gastgarten des Stillen Zechers betreten wollte, wurde er von einer ganz anderen, weitaus größeren, heißeren und wilderen Welle erfasst, umspült und durchgeschüttelt: direkt vor ihm, in vielleicht zehn Metern Entfernung, stieg ein Gesicht in den Himmel auf, ein rundes Mädchengesicht, hell und lachend und umrahmt von einem Strahlenkranz strohblonder Haare. Es war das schönste Gesicht, das Franz (die vielen bunt geschminkten Titelbildgesichter aus Otto Trsnjeks Zeitschriftensortiment mit eingeschlossen) je in seinem Leben gesehen hatte. Und hoch oben, in schwindelerregender Höhe, blieb dieses Gesicht für einen Augenblick einfach stehen, ein rosiger Fleck in der blauen Weite des Himmels, stieß einen hellen Juchzer aus, sauste gleich darauf mit fliegenden Haaren hinunter, nur um eine Sekunde darauf wieder aufzusteigen. Und es war genau diese eine

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