Der Trafikant / ebook (German Edition)
hinaufzuklettern. Sie lag auf der Seite, ihr Körper war fast vollständig erhalten, nur an der Stelle des linken Auges klaffte ein tiefes, schwarzes Loch. Franz begann zu schreien, die Ratte verschwand hinter den dicken Blasen seiner Atemluft. Er tauchte auf, kletterte aus dem Fass und begann zu rennen. Immer noch schreiend lief er ums Haus und weiter über die Wiese bis ans Ufer hinunter, wo die Mutter große Wäschestücke an die Leine zwischen den beiden Birken hängte. Er kroch unter ihren Rock, umklammerte ihre Knie und wusste, dass er für den Rest seines Lebens, zumindest aber bis zum Ende der Sommerferien, dort unten, in der Sicherheit zwischen den schmalen Schenkeln der Mutter sitzen bleiben würde.
»Plopp« hörte er, als sie abdrückte und ihr Schuss ins Schwarze traf. Sie machte einen kleinen Hüpfer auf den Zehenspitzen und quietschte vor Vergnügen, brachte jedoch das Gewehr gleich wieder in Stellung. Franz versuchte die Trockenheit in seinem Mund wegzuschlucken. Erst jetzt hatte er die Zungenspitze zwischen ihren Schneidezähnen bemerkt: ein rosiges Tierchen, das vorsichtig ins Freie hinausfühlte, kurz und feucht die Oberlippe antippte und in seine Höhle zurückschnellte, nur um sofort wieder aufzutauchen und die, in der Mitte von einer dunklen Lücke durchbrochene, wie eine Perlenkette schimmernde Zahnreihe abzutasten. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass ihn eine böhmische Zahnlücke einmal so aufrühren würde. Die Säfte wallten mit solcher Gewalt in seinem Körper herum, dass er für einen Augenblick fürchtete, seine innere Aufrichtung zu verlieren und wie ein ausgeleerter Sack zu ihren Füßen niederzusinken. »Plopp« machte es wieder, und einer der Türken verlor seinen Turban. »Bumm, tot!«, rief das Mädchen, und Franz musste hilflos mitansehen, wie sich ihre Oberlippe dabei ein kleines Stückchen nach vorne wölbte. Mit einem sanften Stups ihrer Hüfte forderte sie ihn auf, sein Gewehr anzulegen. Er gehorchte, aber seine Hände zitterten, und obendrein machte ihm eine schmerzhafte Erektion zu schaffen, die er zu verbergen suchte, indem er seine Lenden so eng wie möglich gegen die Schießbudenbretter presste. »Plopp« machte es auch bei ihm, doch der Schuss ging daneben. Das Mädchen lachte, der Schießbudenmann lachte, und sogar die Türkenköpfe schienen ihre goldenen Zähne seinetwegen zu blecken. Obwohl die Sonne inzwischen hinter den Dächern der Fahrgeschäfte verschwunden war, schwitzte er. Der Schweiß lief ihm in einem dünnen Rinnsal den Rücken hinunter und sammelte sich am Unterhosenbund. Er kniff ein Auge zu und drückte noch einmal ab. »Plopp«. Daneben. Am liebsten wäre er davongelaufen, weit weg, in seine Kammer hinter dem Verkaufsraum, nach Hause in sein Bett am See oder einfach nur zurück in die Grottenbahn, um dort im dunklen Märchenstaub bis ans Ende seiner Tage einsame Runden zu drehen. Da spürte er plötzlich ihre Hand auf seinem Hintern. Sie hatte das Gewehr abgelegt und lächelte ihn an. »Schießen kannst ned, aber a scheenes Popscherl hast!«, sagte sie, und in diesem Moment war ihm klar, dass er verloren war.
Sie gingen hinüber ins Schweizerhaus, wo in dem weitläufigen Gastgarten eine Musikkapelle aufspielte und die bunten Lampions in den Baumkronen aufglommen. Bei einem schnauzbärtigen Kellner bestellten sie zwei Krügel Budweiser und zwei Kartoffelpuffer, die beim Hineinbeißen zart knisterten und aus denen das heiße Fett herausquoll und auf die Tischdecken tropfte. Das Mädchen unterhielt sich auf Tschechisch mit dem Kellner, und während Franz dieser seltsam dunklen Sprachmelodie lauschte, betrachtete er die Wölbung ihrer Oberlippe mit dem verlorenen Blick eines Träumenden. Sie lachte, und der Schnauzbart lachte, und bevor Franz ihn um zwei weitere Krügel wegschicken konnte, beugte sie sich zu ihm über den Tisch, legte ihre Hand an seine Wange und gab ihm einen Kuss mitten auf die Stirn. »Jetzt tanzen!«, rief sie, und Franz’ Kopf begann zu leuchten wie die Lampions in der Kastanie über ihm.
Arm in Arm gingen sie quer durch die Tischreihen zum Tanzboden hinüber, und als sie das rhythmische Beben der Bretter unter ihren Füßen spürten, drehte sie sich zu ihm, legte eine Hand an seine Schulter, umfasste mit der anderen seine Taille und begann sich im Rhythmus der Musik zu wiegen. Franz konnte nicht tanzen und mochte nicht tanzen. Zuhause hatte er es immer abgelehnt, sich mit irgendwelchen prallen Bauernmädeln im Kreis
Weitere Kostenlose Bücher