Der Trafikant / ebook (German Edition)
genug? Du warst immer so dünn! Man hat Dich gar nicht mehr gesehen, wenn Du in den See gesprungen bist. Dünn und glatt und weiß, wie ein junger Saibling im Frühling. Ich weiß, das dürfte ich Dir gar nicht erzählen: Manchmal gehe ich an die Kiste mit Deinen Sachen. Dann ziehe ich einen von Deinen alten Pullovern heraus, halt ihn mir ans Gesicht und riech daran. Ich glaube, mit den Jahren werden die Leute immer komischer. Ich hab schon graue Haare, aber wenigstens ist der Hintern noch einigermaßen fest. Der Wirt ist mir zu blöd und zu ungustiös, aber seit ein paar Tagen hat einer von den neuen Fremdenführern ein Aug auf mich geworfen. Er ist ein fescher Kerl mit Schnurrbart und großen Händen. Wir werden sehen, was draus wird. Jetzt muss ich aufhören und ins Wirtshaus hinüber gehen. Ein paar Uniformierte aus München haben sich einquartiert, die machen viel Lärm und noch mehr Dreckwäsche. Ich hätte Dir so gern ein Blech mit Erdäpfelstrudel geschickt, aber bei der Post heutzutage weiß man ja nicht so recht. Mein lieber, lieber Bub, ich hab Dich immer in meinem Herzen!
Deine Mutter
Franz betastete mit den Fingerspitzen das fein geriffelte Briefpapier. Eine merkwürdige Empfindung stieg wie eine dicke Luftblase in seinem Inneren auf, blubberte an der Wirbelsäule entlang und schlüpfte durch den Nacken in den Hinterkopf, wo sie noch eine Weile weich und angenehm herumwaberte. Deine Mutter hatte sie geschrieben, und nicht Deine Mama , wie auf den Ansichtskarten oder wie früher immer, wenn sie auf dem Küchentisch eine hingekritzelte Nachricht hinterlassen hatte. Kinder haben Mamas, Männer haben Mütter. Er faltete den Brief zusammen und steckte seine Nase hinein. Er roch nach modrigen Stegplanken und trockenem Sommerschilf, nach verkohlten Rindenstückchen, zerlassenem Butterschmalz und der mehlbestäubten Küchenschürze seiner Mutter.
In dieser Nacht träumte Franz von seinem seligen Vater, einem Waldarbeiter aus Bad Goisern, den er nie kennengelernt hatte, da er nur wenige Tage vor seiner Geburt von einer morschen Stieleiche erschlagen worden war, und der angeblich zu Lebzeiten kaum mehr gesprochen hatte als im Tode. Im Traum gingen sie zwischen stillen Feldern einen Weg entlang. Franz war noch klein und hatte Staub in den Haaren. Hoch über ihnen glühte die Sonne, und der Vater verschmolz mit seinem eigenen Schatten. Sie kamen zum großen Amt und betraten die marmorglänzende Eingangshalle. In der Mitte saß ein dicker Mann und stempelte in rasender Geschwindigkeit seine Schreibtischunterlage ab. Schnell reihte sich eine Menschenschlange vor ihm auf, jeder wollte einen Stempel, doch der Dicke hörte nicht auf das Bitten und Flehen. Immer wieder ließ er den Stempel auf seine Unterlage hinuntersausen. Die Schläge hallten wie Kanonenschüsse durch den Raum, während ein goldenes Horn laut und scheppernd große Zeiten ankündigte. Der Vater nahm Franz an der Hand und versuchte sich in die Menschenschlange zu drängeln. Er hatte Angst, Seine Hand war trocken und rau wie ein Stück Holz. Verzeihung, sagte er immer wieder, mehr zu sich selbst als zu den Leuten, Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung. Genau!, sagte der dicke Postbeamte triumphierend, und stieß dem Vater seinen Stempel auf die Stirn: ZUKUNFT stand drauf, und zwischen den Buchstaben lief in dünnen Spuren das Blut hinunter. Franz erwachte schweißüberströmt und mit einem seltsamen Flimmern hinterm Herzen. Noch während des halbbetäubten Heraustrudelns aus dem Schlaf schrieb er seinen Traum auf ein Blatt Papier:
Ein Spaziergang mit dem Vater, die Sonne brennt, und wir gehen ins große Amt, wo ein dicker Mann herumstempelt, der Vater drängelt und entschuldigt sich dafür, das goldene Horn plärrt, und der Dicke stempelt dem Vater das Wort ZUKUNFT mitsamt einer Platzwunde aufs Hirn.
Den ganzen Vormittag hatte er den Zettel vor sich auf der Verkaufstheke liegen und bemühte sich, nicht beständig darauf zu starren. Dieser dicke Mann war doch irgendwie armselig, dachte er bei sich, trotz seiner insgesamt recht imposanten Erscheinung. Armselig und auch ein bisschen einsam in seiner eingebildeten Großartigkeit, und noch dazu gefangen im Traum eines ihm völlig unbekannten Trafikantenlehrlings. Man müsste in die Köpfe der Leute hineinschauen können, dachte er, aber nur während des Schlafes. Tagsüber wollte man ja eigentlich gar nicht wissen, was vorgeht in den Leuten, außerdem war von so einem durchschnittlichen Kopfinhalt ohnehin
Weitere Kostenlose Bücher